Dienstag, 10. April 2012

Mehretagige Party. In der obersten Wohnung finde ich es newyorkig. Dabei scheinen die meisten hier nicht mal so richtig unter Drogen zu stehen. Ich weiß auch nicht wie ich das überhaupt so finden kann. Ich war noch niemals in New York, ich war noch nie so richtig high. Aber natürlich habe ich 80er-Jahre Filme gesehen und etablierten Drogenkonsum beobachtet. Wenn man jetzt »Filme« und »Drogen« im vorangegangen Satz tauscht, stimmt das noch ein bisschen mehr. Jedenfalls gibt es in der Wohnung Lampen mit Reflektoren, schlichte teure Möbel vor einer gigantischen Schallplattensammlung, zwischen denen sehr verschieden gekleidete Menschen stehen. Die newyorkigsten Personen sind eine sehr große Frau mit Lederjacke, breiten Schultern und Accessoires in Primärfarben, sowie der Typ dem die Wohnung gehört. Er sieht wie ein in die Jahre gekommender Beatnik aus. Gut, echten Beatniks sollte das schon passiert sein. Also das Altern. So ein broken Smile über schwarzer Kleidung, halogenbeleuchtet vor rohverputzten Wänden; im Anschnitt eine Treppe aus Stahl mit Gitterstufen...Man darf vermutlich nie echt in New-York gewesen sein um es im Wirklichen wiederfinden zu  können. Dass es sich so ähnlich mit vielem verhält und so weiter, sehe ich im Hausflur- wo sonst auch. Als ich auf den Stufen sitze, die ein speziellerer und persönlicherer Mythos hinabsteigt. Fast ohne mich zu wundern. Vielleicht weil ich als Methode erkenne, was als Neigung sich getarnt hat. Vielleicht auch weil ich den Typen jetzt von hinten sehe und von oben, um zwei Uhr morgens. 

Zu einem Drittel sandfarbene Terrassensteine, garantiert erst kürzlich hochdruckgereinigt. Dann der abgedeckte Pool zu einem Viertel, mit seinen weißen Beckenrändern. Dunkelgrüne Folie, an der Treppe zurückgeschlagen, so dass die weißgraue Schwimmjalousie sichtbar ist, zu deren aufgewickelter Rolle ich früher oft ängstlich und Wasser tretend rübergeschaut habe. Dann ein Streifen Rasen und zu einem letzten Fünftel die dunkelbraune Fläche des Blumenbeetes. Die einzige Vertikale ist die Frau meines Vaters, mit dem Rücken zum Betrachter vor dem Beet stehend, mit kurzem Rock und Motiv-Strumpfhose. Sie raucht Zigarillo und sie tut es alleine. Dabei trotzt sie kippelnd dem weichen Rasen. Sie ist klein, blond und hat diese typischen Waden vom Tragen hoher Schuhe. Ich bin mir sicher sie fühlt sich isoliert und so weiter, vielleicht sogar geschnitten. Früher hat sie versucht diesem Gefühl ein paar Funken Originalität beizumischen. Mit der Geschichte ihrer Herkunft meistens. Daran aber hängt es hier letztlich kaum mehr. Man könnte sowieso jeden in dieser Kulisse fragen, ob er sich allein fühlt. Und genau deshab lässt man es bleiben. Daher erwähne ich auch die Kinderzeichnungen nicht, die hier am Kühlschrank hängen, man würde es mir sowieso nicht glauben. Ich darf mich trotzdem freuen die Cousine und den Cousin von Demut gebändigt vorzufinden. Die Pubertät ist plötzlich und knebelnd über sie hereingebrochen. Sie tragen ihre Zeichen und die üblichen Korrekturmaßnahmen. So lassen sie uns wenigstens in Frieden in der Sofa-Landschaft ruhen. Die haben den Trick noch immer nicht raus, die Neuen. Wir haben es ihnen aber schon ein paar Mal erklärt. Sogar offen vor allen, am Tisch. Wie man hier überlebt nämlich. Wie erstaunt wir uns fanden, das auch unser Vater es wusste. Das musste er doch. Wie dumm von uns. Kaffee und Kuchen. Kaffee und Kuchen. Kaffee und Kuchen. Dann eine aktuelle Begebenheit, erzählt von der Großmutter. Der Tisch teilt sich in unbekannter Menge in jene, die diesen Geschichten etwas Absurdes abgewinnen können und solche, denen es keine Erwähnung wert ist. Es wäre bestimmt schön in Gesellschaft mit welchen, die irgendeine, mir unbekannte, dritte Haltung einzunehmen wüssten. 

In einem der zahlreichen Supermärkte unseres Heimatdorfes kaufen wir Alkohol. Weil wir jetzt nicht mehr ganz so klein sind, kaufen wir besseren Wodka, weil wir noch ein bisschen albern sind Import-Mineralwasser. Zitronen noch. Ich dachte wir hätten das überwunden, teuren Sprudel mit schönem Etikett, ach- sei's drum. Und dann Wodka-Soda trinken in der Küche der Eltern. Wir reden über die Kinder der Super-Reichen, die Daniel für ein Uni-Projekt fotografiert hat. »Schön ist die Jugend« hieß es. Ausserdem noch über Dinge, die uns früher mal peinlich waren. Aber jetzt nicht mehr. Aber ja doch! Ein Glas noch. Und dann zu Martin, Hobbyraum-Party. Und dahin erstmal durch die Nacht, die sich letzter Zeit merkwürdig im Hintergrund hält. Der Partyraum ist voll und verraucht. Sitzbänke aus Holz, geblümt, gepolstert und noch ein paar ausgebaute Autositze. An die Bar setzen wir uns. Martin sitzt dahinter, wo es so eng ist, dass man seinen Unterkörper nicht sehen kann und er wie eine Handpuppe aussieht. Bunte Lichterkette aus nur 4 Lampen. Alte Küchenschränke. Kurt Cobain Poster! Kurt Cobain's Lächeln über der Oma-Sitzbank: besser schnell vergessen. Martin sieht fröhlich aus. Wir üben zusammen eine Geste, in der man still, sich wundert durch den Raum guckt, auf die Art wenn man sich völlig unbeobachtet fühlt, und dann irgendwann kopfschüttelnd und stumm ein Wow mit den Lippen formt. Das proben wir bis zum Ende bestimmt an die 1000 mal. 
Die Hälfte der Leute hier ist mit meinem Bruder in der Klasse gewesen. Der aber ist gar nicht da, weil er die Ex-Freundin nicht sehen will, welche auch nicht gekommen ist. Die andere Hälfte der Leute kennt mich also nicht. Ein Mädchen aus der Eckbank-Ecke, fragt laut wie ich heiße. Zwischen uns der Tisch mit dem Sprit, ich auf einem Barhocker, den rechten Schuh hinter ein Stuhlbein hakend, schulterzuckend. »Irgendwas mit N, oder?« Schulterzucken. »Naomie?« Kopfschütteln und ein stummes Wow. Wie kommt sie auf diesen Namen? Nee, echtmal. Letzte Woche auf dem langen Weg zur Uni, haben wir uns in Vanessa reingesteigert. Weiß nicht wie wir darauf kamen. Wir kennen alle keine Vanessa. Nicht persönlich, allenfalls über Ecken. Auch keine Laura, keine Jenny. Deshalb haben wir über sie nachgedacht. Die Vanessa und die Laura und die Jenny. Und über die, die sich in sie verlieben. Davon kenne ich auch keinen, aber es gibt die, es können nicht wenige sein. Wegen Laura wälzen sie sich brennend im Bett. Wegen Vanessa stehen sie geknickt an Bushaltestellen. Zu Jenny's bester Freundin sind sie übertrieben nett auf Parties. Das ist so, ziemlich sicher, bundesweit. Nicken von der linken Seite, bestätigendes. Aber was macht eine Naomie? Kann sie Ski fahren? Ist ihr Treue wichtig? Weint sie oft, vielleicht nie? Was wissen wir über Naomie's? 
Viel zu wenig. Wir wissen geradezu nichts über sie.