Mittwoch, 5. September 2012

Ich und die Frau, die an grenzenlosem Wachstum leidet, nehmen parallel eine Schmerztablette ein. Sie aber eine Ibuprufen, weil sich Acetylsalizylsäure nicht mit ihren anderen Medikamenten verträgt. Sie hat Wirtschaft studiert und ist riesengroß. Sie könnte mich unter Umständen einfach so kaputtmachen, nicht mal prügeln müsste sie dafür, aber sie lächelt mich ein bisschen verlegen an. Worüber sie dann unsicher wird kann ich nicht einschätzen. Vielleicht rechnet sie auch nur wieviel größer sie wohl als ich ist. In Prozent oder so. Es wird viel sein, ich bin winzig. Würde sie diese Hemmer nicht einnehmen, das erzählt mir eine Kollegin, die den Rauch ihrer Zigarrette schief ausbläßt, und steil nach oben, würde sie  immer weiter wachsen und dann innerlich verglühen. So formuliert das die Kollegin. Wegen der hohen Temperaturen die das Wachstum im Fleisch schürt. Ich finde das unglaublich.

Julia sitzt neben mir und ich schaue von sehr nah in ihr Gesicht, das ich schon lange kenne fällt mir auf. Früher hatte sie oft Bauchweh wegen mir, das hat sie mir vor ein paar Monaten erst gestanden. Sie sei damals insgesamt sehr unsicher gewesen, und dann war ich noch so viel jünger als sie und immer so plötzlich und laut. Ich bin ganz drinnen eigentlich meist ruhig, ganz tief drin ist was gutes, das ich selbst nicht anfassen kann, so kann ichs auch nicht schlimm verwirren, was wiederum ganz gut ist. Sie bestellt mir einen Wein, dann noch einen. Manchmal schwillt das auf einmal und dann fiebert es mich, sowie heute. Glaubst du mir das? Und sie fragt ob das da vorne dieses Rad sei, und ich sage »Ja«, so wie sie eben. Und dann fahr ich viel zu schnell dafür, dass ich soviel getrunken habe. Ich habe vergessen oder nie gewusst, dass Julia tatsächlich eine Freundin ist.

Ich habe fast nicht überlegt und auch viel gewusst. Es ist warm und wir sitzen auf dem Treppenaufgang zwischen den Strassen. Aber die Gelegenheiten. Wir zeigen uns in Bildern wo wir überall waren. Guck mal hier, da hab ich noch an dich gedacht. Oder hier das, das fand ich auch merkwürdig. Ja und Ja. Diese Ahnung wickelt sich nun knieabwärts um meine Knochen, Stränge davon reichen bis auf die Stufen. Vom Wuchern erschöpft und zärtlich fast hin zum Gehsteig. Würden wir  uns jetzt nur ein wenig weiter nach vorne beugen, könnten wir echtes Mondlicht sehen. Ich erzähle dann unter anderem von der Frau mit dem grenzenlosen Wachstum. Er legt seinen Kopf auf meine Schulter und ich rieche an seinen Haaren. Ich sage: Ich war noch nie so müde. Und das stimmt, wie immer wenn ich das sage. Du hast mir sehr gefehlt, das weiß ich jetzt.



Samstag, 25. August 2012

In Arkadien

Marmorbunte Taschen. Kies unter Zungen. Geld vorm Geschlecht.
In den Kabinen singen: gewaltbereite Smileys.
In Arkadien – wo Handcreme fliesst, kein W-Lan.
Wühltische unter Häuten und glänzenden Stoffen.
In den Wassern spiegeln müde Rücken sich und Kinder.
Bildertrübe Schädel auf neue Marken taufen
in den flachen Becken. Sirup-Mandel-Topping.
Jede Letter meint uns, bis 22 Uhr.
Die Alten und die Kranken. Die immerbunten Länder.
Preisschildloses Grausen bis 22 Uhr noch.
Speiseeisverhangen. Himmel hinter Glas. Gewaltbereite Smileys.





Freitag, 24. August 2012

Zwischen dem Wohnzimmer und der Küche war der Helligkeitsunterschied schon sehr groß. Das Küchenfenster lag zum Süden hin, zum Garten. Nein, es liegt immer noch so. Das gibt es ja noch alles, das dauert ja noch. Jedenfalls, im Wohnzimmer ist es immer schummerig, weil die Fenster zum Norden und zur Strasse hin liegen. Die Hauswand im Osten wurde wohl als erste verschiefert, das muss lange her sein und war witterungsbedingt. Danach das ganze Haus in die Schiefern. Also: im Wohnzimmer war es immer dunkel und in der Küche dagegen war es eher sehr hell. Wenn also meine Oma und ich am Wohnzimmertisch saßen, immer jeder auf dem gleichen Platz, dann hörte ich links die Autos der Strasse, das Schlagen der Kirch-Uhr, und wenn das nicht war dann das Echo eines Geräusches das im Raum entstand. Zum Beispiel Geschirr auf Geschirr oder wenn einer mal lauter als gewöhnlich sprach, wenn meine Mutter lachte. Rechts fiel das Licht aus dem Garten in die Küche und dann ins Wohnzimmer. Geräusche die kleiner waren, und trockener und wärmer  – das Reiben von Stoff auf Stoff, wie zum Beispiel die Ärmel meiner Oma auf dem Tischtusch – die kamen immer von vorne. Ich saß ihr meist gegenüber, im Wohnzimmer immer. In der Küche hatten wir andere Plätze, die sich auch alle erklären lassen. Die Oma saß immer so, dass sie an alle Sachen drankam. Also richtete sich ihr Platz nach den Schränken. Unter den anderen wurden dann die übrigen Plätze verteilt. Ruhig und für fast immer. Immer gibt es nicht, damit meint man nur sehr lange.

Als der Platz meines Großvaters frei wurde, setzte sich zunächst mein großer Bruder dahin, bis er ausgezogen war nämlich. Sonst eine Tante, wenn zu Besuch. Die Küche ist komplett hellblau eingerichtet, auch in den Textilien ist immer irgendwas blaues. Wir Jüngeren saßen also auf der Eckbank, bis die Älteren seltener kamen und wir zu ungelenkig wurden um den Tisch auf der Bank herumzukriechen und die Knie – erst auf dem Platz angekommen –, gebeugt und unter uns selbst, mit den Beinen unter den Tisch zu drehen. Was sollte man das auch machen, wenn die Stühle der Alten langsam frei wurden? An diesen also saßen die – das kann man sagen, denn das tun sie nicht mehr und nie wieder – die uns lehrten die Finger auf genaue Art ineinander zu legen. Und auf genaue Art zu danken. Aber nur in der hellen Küche, vor und nach dem Essen. Im Wohnzimmer gab es Kaffee und Plätzchen. Im Wohnzimmer ist alles hellbraun oder beige, die Gardinen weiß. Für Kaffee und Kuchen musste man sich nie bedanken.

Die Eibe stand gleich vor dem Küchenfenster, und war einfach ein großer Strauchklumpen. Aussen dunkelgrün und nadelig dicht und sehr lange rund gehalten durch den Schnitt des Gärtners. Insgesamt wie die Form einer Ananas, ohne Strunk. Drinnen war sie trocken und braun und die Äste liefen wie in manchen runden Treppenhäusern, wie versetzte Stufen. Sie waren aber zu dünn um da hochzuklettern. Also blieb man unten stehen und guckte hoch. Als ich größer wurde interessierte mich das nicht mehr, was man da sehen konnte, ausserdem kam ich nicht mehr durch diese Stelle in die Eibe. Passte nicht mehr dadurch, meine Haare hätten sich einfach nur um die Äste gewickelt und alle Nadeln hätten gekratzt, rote Spuren hätte es gegeben, mit weißer Schürfung drumrum, es wäre schrecklich gewesen. Jetzt gibt es diese Eibe nicht mehr, dafür noch mehr Licht in der Küche. Wenn Fotos gemacht wurden, beispielsweise auf Konfirmationen oder Taufen, dann stellte man sich meist für das Motiv vor diese Eibe, und danach noch mal vor die Schieferwand. Väter halten ihre Töchter oft ganz seltsam im Arm auf solchen Bildern, wie blanke Schiffchen und als ob sie ihren Armen nicht trauen.






Dienstag, 17. Juli 2012


Ich halte nichts in den Händen, meine Arme sind nicht verschränkt. Lux sieht mich glasig von der Seite an, ich habe den Kopf abgewendend und tue uns damit einen großen Gefallen. Lux versucht nicht einmal mich zu verletzen, sondern probiert so etwas ähnliches wie gnadenlose Ehrlichkeit. Ich gehe an den anderen Gästen vorbei in den Garten und weiß dort auch nichts anzufangen ausser auf meinem Telefon rumzuwischen. Dabei wähle ich aus Versehen die Nummer meines Vaters. Ich kann immer noch nicht richtig mit dem Ding umgehen. Mit meinem Vater auch nicht. Wir reden nur kurz und dabei fächere ich die Finger zum stillen Gruß an eine schwarze Palme, die genauso zurückfächert. Es ist nicht schlimm kalt, sie haben trotzdem Heizstrahler unter den Sonnenschirmen aufgestellt. Die Menschen darunter sind alle rot-orange. Die Pflanzen des Gartens auf den Unterseiten grün, sonst schwarz. Auf dem Hinweg habe ich gesehen, wie Lux versucht hat Anne einzuholen. Er hat sie dabei immer wieder dasselbe gefragt, und ist ihr dabei mit seiner Hand beschwörend von den Schulterblättern zum Steiß gefahren. Ich muss mich hüten ihm zu sagen, was ich dazu denke. Die Braut bauscht sich auf einem für den Reifrock viel zu schmalen Stuhl. Dahinter wogen die nassen Büsche. Johannes erzählt mir von einem Freund, der anderen Menschen Energie durch die Augen aussaugt, während im Hintergrund das Hochzeitsalbum rumgereicht wird. Die Musik im Festraum ist sogar ganz gut. Wir sind noch nicht Mal zwei Stunden da, als Lux mir am Buffet das Pflaster vom Kinn reisst, um es Sekunden später wirklich zu bereuen, mit seinen Händen in den Sakkotaschen. »Versuche doch einmal« sagt er »dich in Zukunft etwas zurückzunehmen.« Ich gehe wieder raus, unter einen dieser Heizstrahler, um zu gucken wie meine Wunde das orange Licht findet. Und um nicht auszuflippen.

Schaffst du es noch ein bisschen? Nein? Wieviel noch bis überhaupt nicht mehr? Machst du uns Tee? Ich setze mich hier rüber, wir sind auch ganz still. Lieber lustig? Oke, dann das. Ich verlege lauter blaue Dinge in letzter Zeit, verstehe ich garnicht. Können wir vielleicht keine Musik hören und das große Licht auslassen? Ich weiß nicht wo dein Stift ist, jedenfalls nicht hier im Raum. Ich hab nämlich keine Lust ihn dir zu suchen, daran merke ich das. Dein Buch ist ein bisschen kaputtgeregnet – gut, dass es dich nicht schert. Kann es sein, dass du ganz schön schwimmst gerade? Dass du hoffst, das möge bald vorbeigehen? Meine Brüder haben mich manchmal an den Füssen nach unten gezogen, oder mir den Kopf unter den Spiegel gedrückt. Ich schwimme nicht gerne. Und in Schwimmbädern hören sich manche Geräusche wie aus dem Schiff einer Kirche an, mit den Bänken unter Wasser. Letzte Woche war Sperrmüll in meinem Viertel. Davon blieb so eine Antwort-Karte eines Kinderspiels auf dem Asphalt liegen. Stell dir vor, du fährst wirklich nach Lourdes, wegen der Fotos von den Madonnen. Dann nimmst du mich aber mit, ja? Auf der Vorderseite der Krte waren zwei gleich aussehende Männchen drauf. Oder dasselbe Männchen zweimal. Stell dir vor in Lourdes: da wären dann all die Alten und Kranken, gutes Wetter, Olivenbäume und Mirabellen. Nein, es wäre bestimmt nicht deprimierend. Es bestünde ja auch immer die Möglichkeit, wir würden da ein Wunder erfahren. Wir kämen geheilt wieder. Ich, zum Beispiel, bräuchte nie wieder ein Pflaster. Doch! Eben weil wir nicht mit Wundern rechnen, so funktionieren die ja. Deshalb würden auch nur wir eins bekommen. Auf der Rückseite der Karte stand Etwas in diesem Zimmer. Als ich sie fand, stand der Satz noch komischer da. Sie lag ja auf der Straße, und eine Straße ist ja kein Zimmer. Sie war ein bisschen kaputtgeregnet. So wellig wie die Fotos, die ich damals auf der Strasse fand und dir mitgebracht habe. Noch bevor ich dich um deine Freundschaft gebeten habe. Damit hattest du ja auch nicht gerechnet.





Montag, 9. Juli 2012


In Sütterlin 

Wir sitzen krumm am Küchentisch,
Sandi bequem gekleidet. Der Himmel: ballonseidig, knitterig; 
die Türen schlagen, bis wir sie schliessen.
Wir schreiben Rechnungen und Liebesgedichte.
Es sind an Stühlen im Raum: blöde, viele –
genug Platz für erschwingliches Trübsal.

Stünden wir besser doch aufrecht, in den Kleidern unserer Jugend. 
Ein halber Mond als Zeuge, und meinetwegen noch Sterne.
Hätten wir mehr doch zu fordern, und weniger zu flehen.
Würde der Dumme doch ausziehen, mit samt seinen hässlichen Möbeln.

In Sütterlin, there lies a certain power,
and we seem able to predict the future,
aber immer nur  1-2 Tage.
The air acts as if she's quite wakeful,
wir sollten still sein, und schreiben manierlich:

Dein Name, blitzend und flimmernd.
In den Himmeln, die uns gebühren
von Windhuk bis Kopenhagen.
Leuchtend – vielleicht noch 2 Tage,
kurrent geschrieben: 


Donnerstag, 5. Juli 2012


Ich kann hören was Simon nicht hören kann, weil er selber den Raum verlassen hat. Dabei bin ich auch nicht dort, sondern räume mein Zimmer auf, die klischeehafte Verwahrlosung nervt mich langsam. Unsere Rechner sind auf Freisprechen geschaltet, seit Stunden. Wir reden nicht forciert, nur wenn es sich ergibt. Man hört überwiegend die Umgebung des Anderen, der den Raum gerade verlassen hat. Es klingt wie eine Sound-Sample CD, die in einem leeren Pool abgespielt wird. Ziemlich schlechte Qualität, dadurch wird mein Zimmer eine Spur tiefer, nicht viel mehr, nur um den dünnen Klang der Lautsprecher. Er legt sich über die Geräusche die schon von meiner Umgebung mitgeliefert wurden. Dasselbe halt. Auto-Rauschen, Vögel, schlagende Türen. Seit heute Morgen gebe ich das Passwort meines Rechners ständig falsch ein. So oft bis ich mir ein neues ausdenken muss. Das um die Skype-Kulisse erweiterte Zimmer klingt, als spiele es kaum eine Rolle, wo man sich gerade befindet. Es müsste das Ganze noch trauriger machen, aber irgendwie tut es das nicht sehr. Es wirkt beruhigend. Und das ist beunruhigend. Ich werde aufgefordert einen Merksatz für das neue Passwort einzugeben. »Der Ort ist nicht sehr wichtig.« Das alte Passwort hieß »BletchleyPark«.

Wie ein Blatt Papier von der Seite, fühlte es sich an. Gefaltet oder was auch immer, zwischen meine Rippen geschoben. Da in Schwebe gehalten. Von Flüssigkeit oder Angst. Von draussen schießt Sonnenlicht durch Baumkronen. »Wartet ab, gleich wird das richtig krass, wenn die Sonne da hinten rum kommt, hier ist dann alles golden.« Wie ein gerafftes Tuch fühlte es sich an. Oder ein ganz dünnes Vlies, das in Wasser schwimmt. Ein gestrichenes Segel oder was?, was meinte das Gefühl damit?, die kryptische Sau. Jetzt ist es weg. Ich kann nicht sprechen. Aber das Bild kann ich noch sehen. Und ich sehe auch: Laub das nie mehr fallen sollte, davor die Jungens in den Küchen-Fenstern sitzend, mit Filtern im Mundwinkel und Blättchen in den Fingern. Tassen und Gläser auf dem Tisch. Schnee hinter den Klümpchen der Rauhfaser-Tapete. Explosionen unter der Kaffesahne. Endzeitwolken aus Rahm. »Milch die sich mit Blut vermischt, sieht voll schön aus. Hab ich im Netz gesehen. Ich schick dir den Link.« Ach- gib mir lieber ein Herz oder seine metaphysische Entsprechung, damit sich meins ein bisschen ausruhen kann.

Traumhaft, das geklaute Rad. Einfach spitze. Ich komme Mittags bis zum Park damit. Liege im Rasen und sehe jungen Paaren beim Fangspiel zu. Der Ball findet ab und an schöne Parabeln zum Rasen hin, der frisch gemäht ist. Als ich aufstehe, bin ich von oben bis unten beklebt mit Grashalmen. Druck-Spuren auf den Unterarmen, die aussehen wie die Aussenseite von Vogel-Nestern. Ich glaube heute an die Schwerkraft und dass Zusatzstoffe in der Nahrung gar nicht so schlimm sind, und die große Liebe. Ich glaube an die sozialwirkenden Kräfte von Drogen, bei gleichzeitig destabilisierender Wirkung auf Gruppen. Ich zweifel heute an gar nichts und summe abwechselnd die Hookline von »The Panic« und dann wieder Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Ich kann für Minuten nur »Parabel« denken, und an seltsam geformte Lineale. Ich friere fürchterlich im Supermarkt, wegen der offenen Kühlung. Stehe mit um den Körper gelegten Armen im Kassenbereich, Blick auf die News auf den Info-Screens. Überlege beim Bäcker nach Gottes-Teilchen zu fragen. »Hören sie, ich mache niemanden einen Vorwurf, wir sind alle auf lebenslang unschuldig. Auf ewig unschuldig. Diese Unschuld sitzen wir hier ab.« 

Gerade finde ich kein akzeptables Laken mehr und flippe darüber total aus. Habe nur noch ein rotes im Schrank. Es kommt nicht in Frage. Ich bin sicher auf einem roten erst recht nicht einschlafen zu können. Dafür schere ich mich weniger um das Blut an den Beinen und Bettüchern, die auf dem Boden liegen. Selber ekelhaft. Ich sagte weniger, und nicht gar nicht. Ich flipp aus, wo ist das blaue Laken? Es war The Panic von den Smith’s. Aber nur die Hook-Line. Die halbe Nacht ging das. Hatte ich noch nie. Dann fielen nebenan Fotos von der Wand, ich hab gehört wie sie an der Wand runtergeschlittert sind. Doch. Doch. Warte mal grad – keiner da, geil! Und du? Jolle? Fabi, heute Abend? Nein, ich geh früh schlafen. Ja. Es kann ja – Stimmt, hhhm. Das wüsste ich auch gerne. Wann hast du den Termin nochmal? Glaubst du? Nein, du machst das schon. Und nicht immer dieses Hängen lassen und dann wieder hoffen. Im Zeitraffer sähe das aus wie ein bedächtiges Nicken. Es kann ja keiner was dafür, dass die Welt so... crazycool ist. Crazycool zusammengeschrieben. Hahaha. Du machst das schon. 

Sonntag, 1. Juli 2012


Zur Hälfte der Nacht weckte mich das Palaver erregter Teenager von der Strasse. Es waren min. zwei Jungs, aber nur ein Mädchen. Es ging unter anderem um eine Jenny. Ich ärgerte mich, dass ich davon wach wurde, dass ich keine Jenny war und deshalb morgens wieder früh aufstehen musste. Legte meinen linken Unterarm in die Mulde meiner Taille und hoffte bald einzuschlafen. Weil die Mitte dieser Nacht sehr schwül war, klebte er ein bisschen als das Wetterleuchten anfing. Etwas später, zur zweiten Hälfte der Mitte, ich konnte nicht sagen ob ich wieder wach wurde oder es noch war.

Zwei Schulschwänzer, ein Rabe um zehn vor neun. Das war es schon. Aus dem Park heraus wieder bergab Richtung Hauptstrasse. Die Lindenbäume riechen immer noch extrem. Die glitschige Wiese läuft abschüssig in einer Sackgasse aus, die mit Stromkästen anfängt. Man könnte vom Kopf dieser Gasse die Staffelung von Häusern gegen den Berg sehen, falls nicht dieser Laster hier stände. Er steht Vis-a-vis auf der Mitte der Strasse, ich muss unter den geöffneten Türen herkriechen, die beide Gehsteige blockieren. Was ich dann sehe streift mich heftig, während sich die Strasse von unten gegen meine Füße presst.

Ich fasste mir an die Augen um zu sehen ob sie offen waren, und das Wetterleuchten vor oder hinter meinen Lidern. Es war fast gar nichts gut in dem Moment. Das Grollen kam von Süden, lag irgendwo hinter der Zimmerwand. Und dort dann noch hinter etlichen weiteren. Noch etwas dunkler bestimmt und weniger blau. Ich nahm mir den Arm aus der Seite und mein Atem fühlte ein paar Mal so, als schälte ich mir damit etwas aus dem Brustkorb. Wieder Wetterleuchten und ich hielt die Luft an und lag ganz still, weil ich mich nicht schälen wollte und auch kein Gewitter. Ich fürchtete jemanden zu vermissen und hoffte, wie auch von den Blitzen, dass das ausblieb. Ich bewegte mich dann doch weil ich wusste, dass ich Gewitter kaum kontrollieren kann.

Links lauter graue Häuser, in der Folge immer niedriger durch die Hanglage. »Unterstraße«. Schmutzverläufe von tausend Wettern. Kleine Fenster tief in den Mauern, sauber geputzt, hinter den Vorhängen nur schwarz bis flaschenhalsgrün. Heller Putz in blitzförmigen Rissen. Die Hauseingänge überdacht mit Teerpappe, gefasst von gelblichem Plexiglas. Niedrige Parteien, weiße Klingelknöpfe, davon viel mehr als Fenster. Surely, die bescheidensten Heime. Davor in den winzigen Beeten sehr dunkle Erde. Nass und schwarz. Gelb, pink und roter Mohn. Kornblumen und Rhododendron, die ganze Zeile lang. Milchsterne, Pfingstrosen und Schlüsselblumen. Büsche aus Astern. Weißer und rosafarbener Rittersporn, Margeriten und blühender Kugel-Distel, gasflammenblau. Bis runter zur Tankstelle geht das so weiter.

Es gewitterte nicht, ich schlief ein als es weitergezogen war. Vielleicht zog es auch noch, während ich einschlief. Das Fenster stand auf, hinterm Vorhang. Ganz still und ruhig lag der Boden. 
Ein Finger ist gelb von Blütensaft. Ich bin spät dran und keiner erwähnt es, man wünscht mir einen guten Morgen.




Mittwoch, 27. Juni 2012


In der Fassade schmale Streifen von Fenstern. Einer weit unter der üblichen Kopfhöhe liegend, einer weit darüber. Aus der Hocke sehe ich, eine Haarnadel-länge entfernt, durch die Unteren. OJ guckt – natürlich – unangestrengt durch die Oberen. Ich kneife ein Auge zu und bewege die Nadel mit den Lippen über das Glas. Ziemlich schwimmend das Bild, wegen des Wasser dahinter und dem Alkohol in meinem Blut. An der Liefereinfahrt, sehr wenig später, zeigt OJ auf die helle, plane Mauer, die längs der Einfahrt in die Garage läuft. Zusammen mit der Fassade die Ecke bildet, vor der wir kurz stehen bleiben. Die Sonne malt jetzt, mit Schatten, eine wenig verzerrte Kopie des Rollgitters auf den weißen Putz der Einfahrt. Wer würde meinen, dass dahinter ein Hallenbad wäre? Mit halbnackten Badegästen. Knallblauen Fliesen, alles eckig und nass. Denen da drin nur das Badetuch vertraut ist, der eigene Leib vielleicht, mit ein bisschen Gänsehaut. Und wir machen kein Bild von der Ecke, weil wir uns irren, man käme später wieder hier vorbei. Bevor wir die unfassbar vielen Kaninchen auf dem falschen Hinterhof verscheuchen. Bevor wir im richtigen ankommen, und keinen Eintritt zahlen, weil OJ mit irgendwem verwechselt wird. Ich hatte seinen Anruf nicht mitbekommen, die SMS nicht gesehen. Abends 2 mal, morgens noch 2 mal. Hatte sagenhaft tief geschlafen. »Wenn dieses Wochenende nichts los ist,« sagte ich die Nacht zuvor, rücklings auf der Strasse liegend um Sandi Gesellschaft zu leisten »bring ich mich das übernächste um. Ernsthaft.« Wir konnten vor Lachen kaum noch stehen. Es war absolut gar nichts los, viel zu kühl für Ende Juni und über Chancen absolut nichts zu sagen. Sandi ging als erste in die Knie, als wir über die verpassten unter ihnen lachten.

Wir rauchen auf dem Klettergerüst, es ist warm und alle Jungs hier haben denselben Haarschnitt oder tragen Mütze. Ich drücke mich durch die Leute um Bier zu holen, treffe dabei Fabi und Jolle, später Stefan. OJ singt Deephouse-Lyrics mit, Anna kommt 8 Züge später. Ich falle ihr um den Hals, als hätten wir uns seit Jahren nicht gesehen. Von ihr erst erfahren wir von einem Eintritt und der Verwechslung am Eingang. Von Stefan erfahren wir, dies wäre der wichtigste Termin des Jahres – in Düsseldorf. Während die Sonne abläuft, kaufen wir verkohlte Würstchen, malen mit mit Kreide auf dem Boden, mit den Fingern im Staub. Nur Quatsch und verbotene Zeichen. Dabei verwechsele ich OJ ab und an mit Simon, wegen der Größe vor allem, und weil ich den Namen des zuerst Genannten so selten brauche, wo er soweit weg wohnt. Es läuft jetzt Wicked Games in einer Version, in der Chris Isaac noch langsamer singt als im Original. Wir reden über andere Städte in der anderen Stadt. Unterbrechen uns lautlos, wenn wir mit den Lippen stumm den Refrain mitsprechen. Völlig überraschend das OJ da ist, ich freue mich stark. Morgen schon fliegt er samt Großmutter nach Sylt, will ihr auf dem Flug aus Imperium vorlesen. »Okayer Plan.« sag ich, und frage tonlos, wo ich jetzt diese Erlösung finde, von der alle reden. Aber da steh ich schon gar nicht mehr bei den Anderen, sondern tippe dem Barmädchen auf die Schulter. Bevor wir gehen, führen Fabi und ich explizite Gespräche. Extreme-Wicked-Games-Fachgesimpel. Wir zählen alle Körpereingänge durch, dabei fällt mir auf das Fabi’s Arm nicht mehr im Gips liegt. Wir erreichen die S-Bahn, noch bevor es richtig dunkel wird.

OJ widert sich vor der Unterführung am Hauptbahnhof, darum steigen wir eine Station vorher aus. Laufen zunächst zu Fuß Richtung Innenstadt. Auf der Hälfte ungefähr, klaue ich ein Fahrrad, ziemlich leicht, da es nicht abgeschlossen ist. Es passt sogar farblich zur Garderobe. 1 A mit Rücktritt und Gepäckträger, klickernden Speichen. Wir trennen uns kurz, weil ich noch zur Bank muss. Der Fahrtwind ist lauwarm, ich stehe in den Pedalen. Meine Mantelschöße flattern unsichtbar, weil sie schwarz sind und der Park dunkel. Das Rad hat kein Licht, der Park keine Leuchten. Fledermäuse – nur einen Meter  über meinem Kopf. Ich summe Wicked Games und weiß nicht, wen ich im Refrain meinen soll. Es sind überhaupt keine Motten um die Lichter am Foyer der Sparkasse. Nur ein paar müde Spinnen. Ich beobachte den Bildschirm der Anzeige, das Rad draussen am Fenster, mein darüber geworfenes Spiegelbild- ein grünliches und eins in Rosa, leicht versetzt dahinter, wegen der Doppelverglasung. Fahre zurück zu den Anderen, die beim Italiener warten. Wir wählen, ich bestelle, OJ zahlt – meine Karte ist nämlich defekt. Ich bekomme Oktopus, OJ Pasta mit schwarzen Trüffeln, Anna am Ausgang die Zeitung mit meinen Beiträgen, die dort zufällig ausliegt. Ich hab zuvor noch nie Trüffel probiert. Finde sie schmecken nach nichts Besonderem. Der Heimweg – neu: jetzt mit Rad. Gebe den Strassen mit der geringsten Steigung den Vorrang. Es geht nur einmal kurz bergab, da wo Sandi und ich letzte Nacht gelegen haben. Ich muss mich vielleicht doch nicht töten bevor die EM vorbei ist. 

Auf einem Busparkplatz in Kassel. Wir überlegen: das wäre gar keine Kursfahrt, sondern eine Vergewaltigungs-Reise. Wir gingen gar nicht zur Dokumenta. Gleich käme ein Typ, der uns alle nacheinander vergewaltigen würde. In der Reihenfolge der Anmeldungs-Eingänge. Gesponsert von Red Bull. Heute Abend würden wir alle wieder kaputt-gefickt zurück nach Essen fahren. Schön wär's. Wir laufen durch die Stadt ohne Geräusche, ohne Gerüche, ohne reale Passanten. Polizisten auf Segways, neugierige Studenten mit Rucksack, Rentner in Funktionskleidung, Kinder ohne Haltungsschäden und Zahnfehlstellungen auf Rent-a-Bikes. Es regnet die halbe Zeit. Das Beste an der Dokumenta: die Wiesen drumrum. Wir können uns auf diesen kaum noch bewegen, vor Enttäuschung und Gelächter. Essen zu Mittag im Ristorante Pizzeria Boys and Girls. Stefan und Daniel nehmen Carbonara- immer gut. Simon nimmt eine Margherita. Ich Gnocchi, für umgerechnet tausend Euro. Ausserdem noch auf der Speisekarte: Insalata mixta dello Boys and Girls. Ich habe kein Geld dabei und verspreche Simon, zuhause sofort eine Hypothek für die Gnocchi aufzunehmen. Kassel ist eigenschaftslos, bescheuert, teuer - und jetzt rennt eine weinende Frau, mit einem Glas Hasseröder Premium-Pils auf der Hand, einem Phantom-Dieb hinterher. Schon vier Meter weiter geht ihr Geräusch irgendwohin verloren. Kassel könnte überall liegen, sogar in einigen Menschen. Kassel ist eine einzige Fussgängerzone, der siebte Kreis der Hölle, reserviert für Kultur-Touristen. Ein mit Hausfassaden verschaltes Dämm-Wolle-Imperium. In der Innenstadt, neben der Hauptstrasse, hört man ausschliesslich die vom Wind verursachten Geräusche! Wir könnten stürzen, ohne uns die Knie aufzuschlagen. Strassenbahn fahren ohne angeschnorrt zu werden. Planstadt, Normstadt of Nothing. Die testen hier irgendwas. Nach dem Essen versprechen wir uns gegenseitig, nicht mehr zu lachen. Wir brauchen noch Kraft um uns fünf Stunden über die Wiesen zu schleppen. Bevor wir völlig nass den Bus erreichen, schimpft uns eine Künstlerin, mit dem schlechtesten falschen Bart aller Zeiten, englische Liebesbriefe vor. Mit italienischem Akzent und sauberen Fingernägeln. »Was fanden wir am beschissensten?« fragt uns Simon, im Radio läuft Chris Isaac mit Wicked Games. Den Bart, und dass wir stattdessen nicht im Bus vergewaltigt wurden. »Und am besten?« Die Besucherin die ohnmächtig in der Ecke lag, in dem Raum mit der Dia-Projektion von den Gesichtsverstümmelungen. Daniel meint, er freue sich auf den Schmutz daheim.

Dienstag, 19. Juni 2012


»Ja.« antworte ich auf irgendetwas, schiebe die Zeitung zum Kollegen und sie klebt ein wenig auf dem stramm über den Tisch gezogenem Wachstuch. Abwechselnd rot und grau sind die Bierzelt-Garnituren damit beklebt. Curry Murat in Essen-Kettwig. Industriegebiet. Es ist ein Spitzen-Platz hier, das ist mir klar. Ich fühle mich so gut, dass ich tatsächlich nur ein Wasser trinke, während die anderen traditionelle Gerichte und Cola bestellen. Vor uns liegt die aktuelle Bild, und bin froh das ich nicht gegen den grell-weißen Himmel blinzeln muss, weil ich die Sonnenbrille aufhalte. Ich halte die jetzt immer auf. Man kann tausend gute Gründe gegen Leute haben, die ständig ihre Sonnenbrille tragen. Aus meiner Sicht, durch die warmen Gläser es ist mir gleich. Da sie nach unten hell auslaufen, kann ich auch noch prima damit lesen. Ich habe aber absolut keine Ahnung von Fußball. Daher bitte ich die Kollegen um die Übersetzung, des leider nicht mehr vollständigen Sportteils der Bild-Zeitung. Fantastisch. Irgendein Fussball-Manager ist von den Toten auferstanden. Um 17 Uhr schlug er die Augen auf. Bis auf die nass geregneten Tische ist das ganze Lokal besetzt. Es ist total sauber, alles ist mit faltenlosen Fahnen und straff gespannten Wimpel-Girlanden geschmückt. Hauptsächlich deutsche, vorsätzlich noch ein paar mit internationalem Rapport, aus Versehen eine belgische. Der Rasen ist dicht und kurz, die Zäune mit Geranien geschmückt. Mein Kollege wird bei seiner zweiten Bestellung gefragt, ob wir neu im Viertel sind. Der Besitzer ist Türke, Anfang 40 und sportlich. Obwohl ich hier nur 30 min sitze, kann ich ohne Mühe den Rhythmus nachvollziehen, mit dem die Leute hier kommen und gehen. Man ahnt schnell den Umfang an Formeln und Kommentaren die das begleiten. Normaler Umfang, etwas über dem nationalen Imbissstandard. Ich finde das ganze wahrscheinlich witzig, oder possierlich. Das finde ich nicht extrem ätzend von mir. Um die Ecke ist die Druckerei des Springer-Verlages. Eingeschossig natürlich, und grau. Davor steht – sonst ist alles weitläufig, flach und leer – ein kleiner, einzelner Bild-Zeitungsautomat. Auf dem Weg hierhin fuhr das Taxi an Feldern vorbei, mit riesigen Spargel- oder Erdbeermännchen. Die Bildzeitung ist schon was ganz was feines. 

Auf der Toilette öffne ich meine Haare und wische mir an den Augen rum. Dann ich gehe zurück in den Warteraum. Schön hübsch hinter der Dame bleibend, hinter ihr auf dem kurzflorigem Teppich, als sie uns den Kaffee auf einem Wagen in den dunklen Raum schiebt. Ich nehme davon, obwohl er sich mit dem Medikament nicht verträgt und ich davon Herzrasen bekommen werde. Eben im Zug nach Essen, hatte ich die ersten zwei Stationen lang Herzrasen und Metallgeschmack im Mund, weil ich den kompletten Weg zum Zug rennen musste. Das erzähle ich dem Kollegen, der mit mir Beispiel-Druckerzeugnisse durchblättert, um die Zeit zu vertreiben. Ich finde es wahnsinnig gut, dass er nicht auf die Idee kommt das Licht anzuschalten. Ich bin zu früh aufgestanden, nach einer kurzen Nacht mit lächerlich flachem Schlaf. Aus dem Regal suche ich ein Buch über die Geschichte der Enigma, er ein paar Hochglanz-Portfolios eines Modefotografen. Irgendwann im Winter habe ich während einer anderen schlaflosen Nacht schonmal den Wikipedia-Eintrag zur Enigma gelesen. Den Abschnitt mit der Technik bestimmt vier mal, ohne irgendwas zu begreifen. Wir haben ungefähr eine Stunde Wartezeit für die Abnahme der nächsten Bögen, und ich hätte jetzt noch mal die Gelegenheit, dazu eine ganz anschauliche Grafik mit der Walzenmechanik. Aber ich schaue mir lieber auch die UV belackten Bilder an. Von einem Bikini-Girl, vor einem exotischen Großstadt-Panorama; auf einer Veranda, auf einem Plateau, über einer uns unbekannten Stadt. Wir rätseln welche es sein könnte ich tippe auf Südamerika. Draussen ist leichter Regen. Man sieht seine Schraffur nur dank der dunklen Stellen  zwischen den Blättern, in der Wand aus Bäumen, ca. 30 m entfernt. Der Kollege erzählt mir von Acapulco. Er erzählt total gut. Von einem Mietwagen-Desaster. Korrupten Polizisten mit Fire-Guns – er sagt nicht »Bullen« –, traumhaft miesen Hotels. Dem Trip zu den Pyramiden im Süden, mit dem Bungalow-Park im Dschungel. Dem wunderschön schadhaften Mosaikmuster des verwitterten Pools, umgeben von 60 m hohen Bäumen. Darin Horden von kreischenden Affen. »Doch im Pool war auch Wasser.« Ich war noch nicht in Südamerika, nie echt off-continent, – man, klingt das fies – weil Inseln nicht gelten. Auch England nicht. Und muss die ganze Zeit das Wort »Bletchley Park« denken, während ich mich dazu entscheide, von der Postkarte zu erzählen, die wir in Hamburg gefunden haben. Weil es so angenehm dämmerig hier ist, ich gerade doch kein Herzrasen bekomme und ich den Kollegen mag. Die Karte hatte ein unbekannter Handlungsreisender an seinen Direktor geschrieben. Aus Acapulco. Nach Hamburg. Irgendwann Ende der 70er. Das Motiv vorne ist ein Hotel-Komplex, typisch für die Zeit: Hochhaus mit verspiegelten Fenstern. Er beschreibt das feucht-warme Wetter, die Lage des Hotels und sagt: Acapulco sei eine laute und dreckige Stadt. Hier würde man so beschissen wie sonst nirgendwo auf der Welt.

In der Druckerei riecht es nach Steffi-Love. Meine Kollegin weiß nicht wie Steffi-Love-Puppen riechen. Nach Weichmachern riechen sie, billigem Kunststoff, wie eben diese nachgemachten Barbie-Puppen rochen, deren Gesicht am Hals viel zu breit war, die Augen nicht schräg genug standen und viel zu weit auseinander. Meine Kollegin hatte aber keine nachgemachten Barbies. Ich auch nicht das Nachbarsmädchen aus der Parallel-Klasse hatte eine –, aber ich weiß noch wie sie rochen. Nämlich wie dieses Papier hier. Auf einer sauber gepackten Tasche, die unter einem Tageslichttisch steht, liegen in einer glitzernden Reihe: drei in Aluminium geschlagene Brötchen. Die Maschinen rattern gütig, ich stelle mich mit Nachnamen vor. Er passt gut in den nüchternen Raum. Am Druckterminal werden die Farben verglichen. Der Leiter hat feste, trockene Hände, eine randlose Brille, dunkles Polohemd. Er sieht aus wie ein F-Jugend Trainer. Vielleicht finde ich das wegen dem Deutschlandbändchen an seinem Handgelenk. Und weil er so drahtig ist, braungebrannt und lange Unterarme hat. Ich weiß wie es aussähe, wenn er so ein Netz mit unterschiedlich alten Bällen darin halten würde. Weiße Schnurspuren vom Nylon am Unterarm. Und ich denke immer noch an »Bletchley Park«. Vorgestern hat Sandi es mir buchstabiert, eben erst habe ich es selber gelesen. In dem Buch mit den Chiffrier-Maschinen. Während also die Referenz-Bögen ausgelesen werden, laufe ich durch die Halle und öffne eine englische Telefonzelle, die ganz mit Schaumstoff ausgeschlagen ist. Auf einem kleinen Brett liegen ein Stift und ein leerer Notizblock, und ich sacke ein als ich reingehe. Weil auf einmal alles ruhig ist und auch der Boden ganz weich.

Samstag, 16. Juni 2012


Auf dem Weg nach Hause kaufe ich ein paar Kindern, die einen Teppich-Flohmarkt vor der Miet-Parterre-Wohnung ihrer Eltern veranstalten, einen Plastik-Tiger ab. Für 1,50 €, mit stechenden Augen und Hoden. Total realistisch. Der Tiger passt gerade noch in meine Manteltasche. Zuhause spüle ich ihn erstmal gründlich mit Seife ab. Man weiß ja nie. Kinder zum einen – zu günstige Tiger zum anderen. Hausmeisterhaushalt wohlmöglich. Dann ziehe ich mich um, ich werde das Spiel in Düsseldorf gucken. Mit Kathrin mache ich noch ein paar Krokodil und Crystal-Speed-Scherze, aus rein funktionalen Gründen. Wer weiß schon, wie lange das noch gut gehen muss? Die erste Halbzeit wird bereits anfangen, wenn ich gleich in den Zug steige. Die Strassen sind absolut das, was man ausgestorben nennt. The day after tomorrow...–  denke ich während ich mit dem Schirm in ein Fleckchen Moos piekse, das aus der Fuge zweier Strassensteine rausgetrocknet ist und hochsteht, obwohl es doch in den letzten Tagen so häufig geregnet hat – ...is today. Genauso verregnet wie der letzte Frühsommer. Fast dieselben Strassen, darauf dasselbe Personal. Ich habe noch gut 10 min. Zeitunglesen im Kiosk. Das Match ist mir herzlich egal und auch der Bahnhof ist fast leer. Auf der Rolltreppe zum Gleis geht es mir beinahe total gut. Das letzte bisschen, das mir fehlt bekomme ich fast von dem grünen Licht, das aus den Lücken der elektrisch bewegten Stufen blitzt. 

Mit der rechten Schulter fädel ich mich immer wieder neu in den Menschenstrom ein. Dann warte ich wieder auf den Rest der Gruppe, an der Seite stehend. In der Altstadt, nach dem Spiel. Das Paar, das ich hier besuche ist leider anstrengend. Sie sind auf der Suche nach Verständnis und neuen Freunden. Sie haben sich bei mir gründlich verschätzt. Ich kann wieder gar nichts dafür. Wie sie mich in ihren Wünschen beschreiben, bekomme ich ein bisschen Angst und ich lache oft. Ich würde gern durch sie durchgehen, runter in den Keller dieser Bar. Oder später zwischen den Imbiss-Geschäften durch eine Gasse, wieder zu dem Strom der wirklich Fremden. Oder zum Rhein vielleicht. Aber es geht nicht und ich bleibe geduldig, als auch diese Leute mir abwechselnd von der Liebe erzählen. Mir Drogen anbieten, die ich lächelnd abweise. Sex ausschlage, der nicht meiner ist. Ich habe das schon so oft getan, dass ich darin fast charmant bin, mit der Übung. Sie beklagen die Armut ihrer Freunde, die ihnen einen sattes Miteinander verwehrt und täuschen sich, ich hätte genug Geld dazu und genug Rohheit. Einen Leichtsinn sprechen sie mir ab, weil ich auf ihren Rausch verzichte. Mein Rausch geht bei ihnen nicht. Ich erkläre vergeblich: Es ist das Blinken der Kontrolllampen hinter den Rolltoren am Markt. Das Schimmern von öffentlichem Marmor. Zerschlagenes Glas zwischen Schotter. Die dunklen Flecken, die sich irgendwo, immer wieder mal finden. Als ob sich da etwas hineingebrannt hat, ohne selber heiß gewesen zu sein. Jetzt nachts, auf dem Marktplatz, in den tiefsten Stellen der gerafften Fächer in den gesenkten Markisen. Auf der Hinfahrt eben, schattig hinter dem lauten Grün der Bäume und Hecken. Dazwischen noch das viel zu wirkliche Gewitterlicht, das von den Wolken verdeckt wird, um gleichzeitig aus ein paar ausgesuchten Körpern zu reissen. Im Zug stellte ich mir vor– und das mache ich auch jetzt, während das Paar mich für sein Leben wirbt, in dem Geld eine langweilig große Rolle spielt – wie ich an einem Tisch sitze, mit Blick über eine flache Wiese zu einem Waldrand. Das war leicht, denn einen ähnlichen Waldrand sah ich eben noch im Fenster der Bahn. Sitze da in einem dünnen bunten Kleid, mit still klopfender Brust und Sonnenbrille. Mir gegenüber ein kleiner Junge, der mir irgendwann einmal bekannt sein wird, vielleicht. Auf jeden Fall aber zu winzig für sein Age und den Stuhl und den Tisch, und klug genug mich nach schwarzen Wachstiften zu fragen, weil er die Stellen zwischen dem Laub malen möchte.

Mittwoch, 6. Juni 2012



Ich habe sehr schlecht geschlafen. Schon die zweite Nacht. Diesmal gegen drei. Vor dem Weckruf bin ich wieder wach gewesen und gleich aufgeblieben. Ich werde nicht duschen. Obwohl ich mich erinnern kann, geschwitzt zu haben, halte ich mein Unterhemd an. Ich kann keinen Geruch daran ausmachen und nehme mir nur ein frisches Höschen. Darüber das weiße Hemd von Donnerstag, mit den breiten, schwarzen Streifen. Es scheint bis auf leicht knitterige Ärmel einwandfrei zu sein. Ich knöpfe es nicht zu, weil ich noch ins Bad muss. Dazu eine schwarze, enge Hose aus festem Stoff. Heute ist es fünf Monate her. Ich weiß nicht mehr, was ich sie letzte Nacht gefragt habe, aber ich kam mir dabei nicht albern vor. Eigentlich bete ich nicht, und mit Geistern spreche ich wie mit den Kindern fremder Leute. Und auch genauso selten. In der Küche scheint vor mir noch keiner gewesen zu sein. Alles liegt noch da, wie vor ein paar Stunden. Heute ist nicht wie jeder Morgen. Es ist nie so. Es ist immer eine Variante von jeden Morgen. Nach dem Frühstück suche ich alles weitere zusammen und entscheide mich für die schwarzen Halbstiefel, die unfassbar staubig sind. Das sage ich laut zu mir selber. Ich finde nur einen dunkelblauen Stockschirm zum schwarzen Wollmantel und verlasse pünktlich das Haus. Den Mantel muss ich nicht schliessen. Es ist diesig, die Luft  kühl und weich. Der in die Innentasche gehakte Schirm schaut unten raus, wie die Schwungfeder einer struppigen Elster. Ab der Kreuzung folge ich einem Mädchen, das die Augen der entgegen kommenden Männer wie ein Löschblatt auffängt. An der Ampel sehe ich auf die ungeputzten Schuhe, mit dem Staub einer Party von Samstagnacht, hinter einem stillgelegten Bahnhof. Ich finde der Staub sieht ganz gut aus. Die Party war wirklich langweilig. Ab dem Ausgang des Parkhauses trennen sich die Wege von dem Mädchen und mir, ich hab sie nicht von vorne sehen können. Jetzt kommen die besten Meter über den unbefestigten Parkplatz, der schon so voll ist, das ich ihn nicht mittig queren kann. In die kurze, dunkle Strasse mit den schönen Fassaden und der bescheuerten Zusammenstellung von Einrichtungen darin. Dazwischen Abrisslücken, die dabei sind sich zu etablieren. Ich fasse ein Blatt am Blumengeschäft, dann sehe ich auf die messinggerahmten Fenster des Orient-Teppich-Handels. Zwei alte verwirrte Raucher vor der geronto-psychiatrischen Tagesstätte. Auf der Hälfte der Strasse kommt mir die schüchterne Auszubildende entgegen. Ich sage »Hallo!« sie »Guten Morgen«. Kurz vorm Büro, an der Ecke gegenüber, fragt mich ein unheimlicher Typ wo hier der Puff sei. Ich zeige auf ein 5x2 Meter großes Neonschild»Nicht zu danken.« — und wühle in der Tasche nach dem Firmenschlüssel.

Ich esse doch auswärts zu Mittag. Wir sitzen doch beim Arkaden-Jappsen. Vorher haben wir uns ein paarmal im Kreis gedreht. Lux hat sich dabei am Hinterkopf gekratzt und ich Standbein-Spielbein Anordnungen probiert. Ich habe eigentlich keinen Hunger und Lux nimmt etwas, das er eben noch nie wieder essen wollte. Wir sitzen in der sterilen Kantinen-Lounge, an einem dieser hohen Tische auf Barhockern. Das ist alles ausreichend bescheuert. Luxi fühlt sich wie unter Drogen und zerdrückt angenervt seinen Reiskuchen. Ich versuche nicht wirklich, nicht wegen jeder Kleinigkeit zu kichern, als sich ein komplettes Rudel von Kaufmännern um uns setzt. Lux sagt, es sei der absurden Situation angemessen, nur noch schweigend auf den Teller zu sehen. Das behalte er sich als Recht vor. Ich bekomme die lustige Panik, dass der Typ mir gegenüber, nicht echt sein kann, weil sein Gesicht zu breit und zu symmetrisch ist. Dann heisst der auch noch Neumann. Auf dem Rückweg setzen wir uns noch fünf Minuten auf eine Bank und beobachten Typen, die Passanten einen Klecks Handcreme anbieten, oder heiß eingedrehte Locken. Bei dem Typen mit den Handy-Schalen bildet sich tatsächlich eine Schlange aus zwei Kunden. Auf der Rolltreppe frage ich mich, ob ich müde und sie lang genug ist, um darauf einzuschlafen.

Ich werde insgesamt drei Mal gefragt was ich zu Mittag hatte. Zweimal sage ich »Lachs«. Einmal davon, spreche ich das aus, wie jemand den ich kenne. Auf dem Tisch steht Kuchen. Über die von der Konditorei beigelegten Servietten mache ich ein paar ganz gute Witze. Der letzte scheint etwas zu hart. Wieso eigentlich? Es gibt soviel, an dem man sterben kann, worüber soll man denn da noch lachen? Nachmittags schneide ich Karton auf sehr exakten Linien. Ich denke mir eine Filmszene bei der zwei junge Chirugen, Freunde aus dem Studium, während einer OP in Streit geraten. Über geöffneter Bauchhöhle, über etwas ausserhalb des OP-Saals. Sie verstehen sich aber die ganze Zeit nicht richtig, einmal weil sie sehr leise zischen, dann wegen dem Mundschutz. Dann bin ich fertig mit dem schneiden. Mir fällt auf das ich noch keine Musik gehört habe heute.

Während ich mich dusche, weiß ich nicht was und ob ich essen soll. Nach dem abtrocknen und föhnen, schminke ich mich noch. Ist mir nach. Kathrin fragt mich durch die Tür irgendetwas blödes, und ich antworte ihr. Auf dem Weg in mein Zimmer mache ich kein Licht, wegen dem Nachbarn. Ich ziehe mich an, räume ein bisschen auf und schaue oft auf das Telefon. Ich werde mich verspäten, habe aber keine Lust das voranzumelden. Bis auf Unterwäsche und Hemd, trage ich wieder das von vorhin. Auch ein ähnliches Hemd, nur mit sehr schmalen Streifen. Interferenz-artig schmal. Ich ärgere mich stellvertretend für Kathrin, mir so eine dumme Frage gestellt zu haben. Ich packe den Rechner in den Koffer und suche meine Handschuhe und wenn zehnmal Frühling ist. Ich rufe Sandi an und sage: »Du Hure, du hast mein Leben zerstört. Ausserdem gehe ich jetzt los.« und gehe los. Es regnet extrem. An einer Ampel überlege ich worüber die Mediziner in Streit geraten sein könnten. Vielleicht hat sich einer von ihnen in eine unkoschere Sache ziehen lassen. Oder irgendetwas eigentlich lustiges ist aus dem Ruder gelaufen. Sie haben ein krummes Ding laufen und der eine benimmt sich aus Übermut zu riskant. Oder einer hat einen Witz über einen Bäcker und Aids gemacht. Ich höre immer noch keine Musik. Meine Schuhe sind nass und wahrscheinlich wieder sauber. 







Dienstag, 29. Mai 2012


Mit einem Kissen unterm Arm, schaue ich mich in dem Garten um, in dem ich warten möchte. In den Ecken stehen alte Stühle und Liegen, ein Feuerkorb, ein Tisch. Ich lege das Kissen und meinen Kram weg, nehme die Brille ab und schaue durch die Fenster in den Anbau. Ich hätte auch im Arbeitsraum warten können, oder in der Küche. Ein kleine Reihe von Dingen gibt dem Garten den Vorzug. Die Sonne natürlich, die – weil der Garten so schmal ist – tatsächlich in ihn zu fallen scheint. Raschelnd gebremmst vom Laub, landet sie in Bruchstücken auf dem Kies, von dem ich eine Handvoll nehme. Die dunkle Stelle schiebe ich mit dem Schuh wieder glatt. Dann lege ich den Kopf in den Nacken und schaue in die Kastanien des Konsuls, im Garten nebenan. Dann wieder in den Anbau und in den Feuerkorb. Kastanien nochmal – etwas länger. Es ist immer noch ziemlich warm. Ich lasse ein paar von den Steinchen fallen, indem ich sie einzeln mit dem Daumen aus meiner Faust schiebe; höre fast nichts von der Stadt und dann Schritte. »Oh, danke.« Ich bekomme Import Mineral-Wasser und ein Glas. Wie bei einer Mechanik; einer alten Mechanik, einer Physik die man mögen kann; greifen nun Dinge ineinander, die uns sagen lassen, dass es hier wirklich schön ist. Dass man ziemliches Glück hatte. Viel Glück sogar. Eigentlich ist hier alles ideal. Wir nicken. In einem Baum hinter mir und der Dame, vielleicht ist es auch nur ein hochgeschossener Strauch, führt ein kreisrundes Loch durch den Stamm. Gerade bevor die ersten Äste sich gabeln. Man könnte eine schmale Hand durchschieben, ohne Steinchen darin – versteht sich. Aber daran denke ich garnicht, als ich den Garten nochmals lobe.

Die Jungs benehmen sich hochriskant, weil sie meinen Nachbarn provozieren. Jetzt ist das natürlich lustig, ich lach ja auch. Aber ich muss hier nicht nur wohnen, sondern auch überleben. Beides manchmal schwer genug, für mein Empfinden. Sein Fenster liegt direkt meinen Fenstern gegenüber. Tagsüber ein dunkles Rechteck, mit blätterndem Rahmen; ständig offen, mit einer alten weißen Spitzengardine, die ernsthaft auch noch immer vom Wind rausgezogen wird. Die weiße Fahne eines Spinners, der vor seinen Perversionen kapituliert hat. Nachts brennt, im dunkel gestrichenen Zimmer, eine lilane UV-Lampe. Immer, und mindestens, ein Flatscreen. Seit circa 4 Monaten beobachtet mich der Kerl offensiv, manchmal rauchend, immer im Unterhemd. Nicht hinterm Vorhang, nicht mal heimlich. Er hat gerade einen Freund zu Besuch, oder einen debilen Bruder. Möglicherweise wohnen sie zu zweit dort, und ich habe bisher immer nur einen von beiden gesehen. Wahrscheinlich erledigen sie das Starren, Rauchen und Pornoglotzen in Schichtarbeit. Dauerhafter Betrieb. Wir beobachten sie wohlmöglich gerade während der Übergabe. Schlimm und lustig. Schlimm und schlimm. »Guck mal:« sagt Anne, die diesseitigen Zimmer durchstreifend, alle Sachen durchkommentierend, während Mark den Typen mit einem Marker eine Botschaft auf mein Fenster schreibt. In Spiegelschrift– er braucht leidlich lang dafür. Mit einem »Auf keinen Fall.« wische ich sie direkt wieder weg. Bei ausgeschalteter Lampe, mit zusammengekniffenen Augen schauen wir rüber. Bald formen Lux und ich die Konturen meines Sofas exakt nach, so schlapp sind wir von der neuesten Entdeckung. Auf einer Box neben – ich weiß garnicht was das ist – steht ein... Tesla-Ball! Dieser zuckt seltsam unregelmäßig. Bestimmt ist er an ein Audio-Signal gekoppelt. Musik kann es nicht sein. Wahrscheinlich ist es...ja, bestimmt sogar...Hahaha! Hardcore. »Können wir bitte losgehen? Ja?« Können wir. Anne ist gerade auch mit allen Sachen durch. Die Sätze von ihr, die mit »Guck mal:« anfangen (sehr viele), enden entweder mit »voll schön« oder »total schäbig«. Aus welchem Motiv heraus sie das macht, vermute ich später auf der Strasse. Ganz offensichtlich ist das nicht, denn es geht ihr, glaub ich, weniger um das Urteilen. Sie gibt mir recht. Ausserdem vermute ich, dass mein Nachbar seinen Pimmel manchmal grinsend auf den Tesla-Ball legt. Vielleicht auch im Contest mit seinem Kumpel. Ich täte das wahrscheinlich auch, hätte ich einen Pimmel, einen Tesla-Ball und einen Kumpel, der das lustig fände. Es fehlen mir dazu nur zwei Dinge. Eines davon sucht Lux auf Amazon.

Mittwoch, 23. Mai 2012


Ich lasse die Tür zum Nebenzimmer seit 2 Tagen nachts offen, weil es so warm ist. Heute so schwül, dass ich noch dusche. Jetzt so heiß, dass ich die Decke nicht ertrage, wie eben schon den Fön nicht und daher die Haare nass bleiben und ich unbedeckt. Dann schlafe ich, liegend auf meinem Bett, während ich im Traum vor einem anderen sitze, wach. Es ist das Bett meines Bruders. Nicht alleine bin ich dort, und lieber wäre mir mein Bruder läge darin. Als ich aufwache, erschrecke ich mich vor der Zimmertür, die ja so ungewohnt, mit ihrem Blatt ganz schwarz, vor meinem Bett steht. Ich gehe ins Bad und trinke Wasser. Dann ermittel ich mit dem Kompass auf meinem Handy, in welcher Richtung meine Zimmer liegen, danach prüfe ich den Wecker weil ich fürchte zu verschlafen. Noch bevor mir klar ist, dass dies zu der überwältigenden Mehrheit der mehr als verkraftbaren Dinge gehören würde, schlafe ich ein.

Ich schliesse das Fenster mit dem lästigen Mann darin. Das hatte ich schon vor, bevor der Fremde einen kurzen Moment nutzte, um mich durch das erdgeschossige anzusprechen. Es geht um seinen Wagen auf dem Parkplatz. Er sei in 10 Minuten wieder da. Er müsse nur schnell nach gegenüber, wegen einer kaputten Heizung. Er wiederholt das mindestens 4 mal, bis ich dann doch das Fenster erreiche. Falls jemand käme. 10 Minuten. Sein Wagen. Die Heizung. Maximal! Die Heizung im Puff gegenüber. Haha! Maxima! Mit dem Glas schiebe ich die Stadt und ihn aus dem Raum. Dass es gut isoliert ist stelle ich fest, als ich das Summen deutlich höre, aus einer Ecke oben rechts, über der schmaleren Küchenzeile. Ein Trafo, der die Luft der Küche so kitzelt, wie es das Gewitter mit der Luft der Stadt tun wird. In 10 Minuten - maximal - es wird schon dunkel. In der Halle beleuchten die Fluter bedrohlich die Streben der Decke. Wie die bösen Jungs mit den Taschenlampen unterm Gesicht. Die, die sich noch Mühe gaben beim Erzählen gemeiner Märchen.

Wir sitzen im Eingang des Hauses neben der Kneipe und schauen auf die Strasse. Sebastian kommt nochmal vorbei. Diesmal zu Fuss. Eben lobten wir sein Fahrrad und jetzt seine kurzen Hosen. Dann bewundern wir, noch nachrücklicher und auf geschwisterlich ähnliche Weise, das Blau des Nachthimmels. Das Beste, das Allerschönste gar. Eine Wand in meinem Zimmer habe ich ihm geweiht. Die im Süden. Während mein Bruder raucht, esse ich 3-lagiges Kaugummi. Eines vermische ich kauend im Mund, ein anderes zerlege ich mit den Fingern. Eine grüne, deutlich weichere Schicht zwischen pink und lila. Milchschnittenhaft. Wann immer es ging, aßen wir als Kinder bei Süßigkeiten die einzelnen Schichten ab. Mit den Zähnen, in Zeitlupe, die harten. Mit der Zunge das Weiche zuletzt. Wir wünschen uns eine Sendung im Fernsehen oder sonstwo, in der vielleicht solche Themen besprochen würden. Ein Format in dem solche Worte fallen könnten wie »milchschnittenhaft«; in dem Menschen in Zeitlupe Dinge zerlegen und in erhöhter Geschwindigkeit darüber sprechen. Oder andersrum auch mal. Auf dem Weg heim geh ich die Treppe hoch, welche ich auf dem Hinweg runter lief. Viele bunte Stufen. Dabei höre ich noch, bis zur Hälfte etwa, einen Tango aus dem Café an der Ecke, mit dem Motiv des Korobeiniki. Ich schwöre.

Dienstag, 22. Mai 2012


»Woran denkst du?« fragt mich das Mädchen und ich spiele verwirrt, weil ich es nicht preisgeben will. Ich sehe zuerst ihre hellen Leinenschuhe und dann die Hosenbeine an. Ihren Gürtel, eine leichte Bluse, eine Kette. Als ich in ihrem Gesicht ankomme, habe ich tatsächlich vergessen was es war. Neben der weißen Wand stehend, scheint ihre Haut leicht gebräunt zu sein.
»Weißt du es nicht mehr?« Sie fragt nicht selten solche Dinge. Ausserdem fragt sie mich solche Dinge. Deshalb und der lachsfarbenden Segeltuchhose wegen, bin ich vorübergehend sprachlos. Es wirkt dann passend, weil auch echt, als ich mich sortiere. »Geh doch nochmal raus und wieder zurück, vielleicht fällt es dir dann wieder ein.« Dass sie mit ihrer hellen Haut sich in die Sonne setzt, hätte ich nicht gedacht. Wie sie dort steht als warte sie, bis es mir wieder und laut einfiele. Ich kann mich nicht ausgelassen genug über die Umstände wundern, die unser Gespräch umgeben. Solange sie dort steht nicht.
Sie hat ein sehr klares, glattes Gesicht, dessen Anlagen es auf eine pikierte und ablehnende Mimik vorbereitet haben. Was mich immer verwirrt, weil ich diese Züge nicht aktiviert sehe, wenn sie mit mir redet. Nicht dass ich es meinethalber unbedingt annehmen müsste. Nicht dass ich es meinetwegen nicht erwarten könnte. Je öfter sie so leichthin mit mir spricht - das denk ich als ich antworte: »Ich hab garnicht den Raum gewechselt als ich es vergaß, nur die Dokumente.« - so weniger aufdringlich wird der Wunsch, schlimme Dinge zu sagen. Sätze welche mir ihre Züge vorschlagen. Nicht weniger dunkel als manches Bild, welches sich Männern vor ihre blassen Brüste schiebt. Ich glaub sie mag mich. »Dann öffne doch das Dokument noch mal, dass es dir wieder einfällt« Und wir lächeln beide, als es dieses Fenster wird. Noch ohne eine Zeile. Solange sie dort steht nicht. Mein Lächeln, ich bin noch in der Übung, etwas kühler oder wärmer als ihres. 2 Grad daneben etwa. Sie merkt es nicht, sie ist nicht so empfindlich wie sie aussieht. Den Mittag über sitzt sie nicht im Schatten.

Freitag, 18. Mai 2012


Den Schlüssel finde ich auf dem Zählerkasten, in dem dunklen Schränkchen neben der Garderobe, an dem ihr Mantel hängt und zwei leere Bügel. Dabei merke ich, dass ich von jedem Ding hier sein Geräusch weiß. Der Kühlschrank ist sauber, das Eisfach frisch abgetaut. Ich nehme etwas aus dem mittleren Fach und stehe dann für Minuten neben der Anrichte, die Fingerspitzen an der Kante der Arbeitsplatte. Im Küchenfenster spiegelt sich ein Alpenveilchen. Der Boden gibt keinen falschen Klang, als ich ins Wohnzimmer gehe. Auch der Schrank nicht, aus dem ich ein Kistchen hole. Die Platte auf der ich es abstelle; das Tischtuch, das ich zurückschlage. Das Holz des Möbels und das Papier, das ich darauf verteile; die Bilder die ich zurücklege und die, welche ich mitnehme. Hier hat alles sein absolutes Gehör. Hier finden alle Dinge, auf einen Hinweis ihre Sprache. Ihre Stimmen, falls man sie hören will, schlagen immer den richtigen Ton an. In diesen Zimmern fällt mir das auf, dass jedes einzelne immer genau trifft. Es wird nicht der einzige Ort sein, aber der eine den ich kenne. Noch bevor ich die Kanten des Stapels auf dem Tuch sauber schlage, hör ich wie dumpf das klingt. Und dann ziehe ich die Brauen zusammen und schlucke, weil sie mir so schrecklich fehlt. Weil ich gehen will, bevor ich Licht machen muss, beeile ich mich ein bisschen. Das Geräusch des Schalters fürchte ich nicht, auch nicht die Dunkelheit. Nur den Effekt. Ich schliesse das Kistchen, dann den Mantel, die Türe noch. Zuletzt das Schränkchen mit dem schnappenden Magneten.

Sonntag, 13. Mai 2012



Zur Erinnerung: Es ist natürlich nichts anderes als Zufall, dass ich einige Zeilen davon auf blauem Papier wiederfinde. Ich nahm nicht mal Einfluss darauf, welche sie wählten. Und auch sie mussten die Entscheidung ihrem Geschmack überlassen. Irgendwann tritt man demjenigen gegenüber höflich zurück, was sich Vorsatz nennt, und Sonntags schonmal Wille.
Das bisschen Gewalt das einem bleibt, verwendet man besser auf die Gestaltung der nach aussen leider unsichtbaren Geste: Ganz leicht und ungezwungen.
Weniger aus Bekundung eigener Großzügigkeit- dieses Etwas nimmt sich so oder so seinen Teil-  denn aus einer Nachsicht, die das Verständnis mit sich bringt. Und der Beobachtung- hier einmal schwarz auf blau- dass sich von allem ja nur wenig in die Gegenwart rettet. 
In diesem seltenen Fall, da was ich aufschrieb Gefallen fand. Und das erst jetzt in echt verblassen kann, weil es gedruckt ist. 

Samstag, 5. Mai 2012


Ich habe nicht lange gewartet, blättere trotzdem die komplette neue Ausgabe durch. Nur ein Artikel ist ein bisschen unheimlich, dabei bemühen sich alle darum. Dieser Absicht noch entgegenwirkend, wird auf jeder sechsten Seite für einen teuren Chronographen geworben. Zeit an sich ist eben nur manchmal gruselig. Das vorige Heft habe ich verpasst. Das letzte eigene habe ich mir vor einem Jahr gekauft und sofort bei einem Freund vergessen. Vor nicht ganz einem Jahr. Im Juni. »Im Juni warst du das letzte Mal hier« sagt sie. Das Mädchen prüft mich im Spiegel, ich zwinker sie an weil sie mich anzwinkert. »Seitdem hat sich erstaunlich wenig getan.« sagt sie. Weil ich eine Bekannte bin, zahle ich angeblich weniger. Beim Verlassen des Ladens bekomme ich das Rückgeld, welches nicht viel ist, komplett in Münzen ausgezahlt. Plötzlich doch viel. Den Trick kann man sich merken. Ich frage mich, ob denn dieser Freund das Heft gelesen hat. Ich müsste ihn längst mal besuchen, er wohnt doch so weit weg. Ich weiß noch den präparierten Eberkopf in seiner letzten Wohnung, mit der komisch glänzenden Zunge, und wie ich mir abends sein Rad leihen konnte, wenn er von der Arbeit kam. Mit dem kaputten Schloß. 

Fahrrad fahren fühlt sich für mich nur so an, wenn ich auf geliehen Rädern fahre oder geklauten, deren Rahmen viel zu groß sind. Auf ebenen Strecken, mit durchgedrückten Knien in den Pedalen stehend- dann scheint das eigene Gewicht zu reichen, dass man weiterfährt. Es ist aber in Wirklichkeit der Schwung, oder ein Gefälle welches man nicht erkannt hat. Man fürchtet ein bisschen um die nackten Knie. So ist es bei mir immer gewesen: der Mut muss erst wachsen und wird dann vom Leichtsinn gezogen, oder vom Vordermann, der pendelnd immer schneller tritt. Wie da im Sommer, auf den übervollen Strassen, als ich fast ständig ums Leben kam, weil ich nicht verloren gehen wollte. Auch weil ich mein Geld nicht selber trug, sondern es in den Taschen des Vordermanns verwahrte. Während einer kurzen Rast stand ich am Fluss dieser Stadt, der schon ziemlich breit ist. Der Kopf summte schlimm und ich spuckte eine Angst ins Wasser, die mir bis heute manchmal entgegentreibt. Oft seh ich ihre Schlieren nicht mehr unter den Linien der anderen. Schnell habe ich wieder den Lenker gegriffen, den schon schmerzenden Schoß wieder auf den harten, schmalen Sattel geschoben. Rotes Licht auf den Schultern, blauer Schatten im Gesicht. Am Ufer abends, mit dem goldig glänzenden Staub. Ich dachte ich verlier den Verstand. Es war nicht komplett im Wasser gelandet. Es sammelt sich längst im Munde aller. So ständig, dass es kaum noch jemand schmeckt.
  
Auf dem Heimweg zerwühl ich mir ständig die Haare, in der Hoffnung dass sie bis abends etwas fettiger sind. Auf einem stumm gestellten Fernseher beim Gemüse-Türken, schleppt sich ein Mädchen durch Dünen. Ich zahle mit der größtmöglichen Anzahl an Münzen. Ein Typ wälzt sich singend im Wüstensand. Dann rettet er dem Mädchen das Leben oder bricht ihr das Herz, vermutlich beides: es ist ein Musik-Video, in viel zu satten Farben. An der Kasse packt der Kassierer alles in eine durchsichtige Tüte, die dasselbe Blau hat wie mein Hemd. Meine Güte – die Wolken sind fliederfarben und überall riecht es nach Lindenbäumen, die ich nur im Frühjahr erkenne und die mir den Rest des Jahres nichts bedeuten. Keine Eile. Es ist ja noch ein bisschen Zeit bis dahin, wenn der Blütenstaub auf den Strassen in Linien zusammentrocknet, nach den ersten aufgeschobenen Regengüssen. Die Strasse querend geh ich schrittweise dem Horizont entgegen, den man in der Stadt seltener sieht als in der Wüste, wegen der Häuser. Manchmal tut man dabei so, als ob es etwas besonderes wäre. 

Freitag, 27. April 2012


Eine krakelige Bemerkung von David Shrigley später, die mich seltsam befriedigt, finde ich mich tief getroffen und entspannt auf einem Eames-Chair, gerahmt von Vitra-Schränken. »Only Love can pull you through the way you have been feeling. But there is no love. There is just interior-design and furniture.« Die Flächen der Schreibtische sind schwarz. Nicht Hoch- eher Seidenglanz. Das Licht streut sich, je nach Art, weich und breit deckend auf der Fläche. Je näher die Quelle, umso schärfer die Grenze. Der Bildschirm reflektiert auch dann noch hellblau, wenn ich ein großes weißes Feld in ihm aufziehe. Nur das Tageslicht schafft weiß. Es wird dreifach gestreut, durch Wolken, Milchglas-Fensterscheiben und die Textur der Tischoberfläche. Nichtscheinende Körper finden sich auf ihr nur als unsauber begrenzte, dunkle Ahnungen. Lebenden ist es unmöglich sich an ihnen aufzuhalten ohne Effekte zu produzieren, welche nicht mit ihnen selbst vom Tisch verschwinden. Sie sind da sehr empfindlich und merken sich bei organischen Wesen vieles. Sobald man mit seiner Haut die Tische berührt, gibt es dunkle Stellen, in einem Schwarz zwischen dem der von Licht berührten Flächen und der Schwärze der Schatten. Am Ende des Tages ist auf dem Tisch eine radiale Anordnung von Flecken, ausgehend der Mitte der Tischkante. Man stellt dann die Tastatur hoch für die Reinigungskräfte.

Heute werden die Plätze neu verteilt. Flache Hierarchie auf einer Etage. Die Mitarbeiter finden sich in wechselnder Zusammensetzung, in wispernden Gruppen über die Pläne gebeugt. Einige sind so aufgebracht, dass sie wütend flüsternd mit Kündigung drohen. Wirklich. Mehrmals finden sie sich auf den Aktenschränken neben mir ein. Ich darf sie ruhig hören. Mir ist es tatsächlich am egalsten wo ich sitze. Einmal weil ich nicht lange bleiben werde. Dann auch weil ich nicht glaube, dass sich eine Stellung dauerhaft durch eine räumliche Positionierung markiert. Vielleicht in extremen Fällen. Aber nicht in diesem Raum, mit den sich sehr gleichenden Plätzen. Offene, großzügige Bereiche in einem etwa 5 Meter hohen Saal, durch 2m hohe Wände unterteilt. Weiß und glatt verputzt. Vor allem, wenn dieser Platz jeden Tag einzunehmen ist und dadurch in seiner Aussage eher neutraler wird, sich mit Raumausnutzung, wenig später schon mehr durch Gewohnheit erklärt denn durch Rang. Der ja hier ohnehin funktionsgebunden ist. Eigentlich. Natürlich kann ich mir denken welche Mechanismen hier greifen. Entscheidender zeigen sie sich in kleinen Situationen. Gestern beispielsweise habe ich in der Küche gesessen, lesend, während einige Kollegen am Fenster rauchten. Vor der Glastür, die wesentlich näher zu mir lag, stand der winselnde Hund des einen. Eigentlich möchte ich jedem Wesen die Türe öffnen. Das lernt einem das Leben schnell aus. In diesem Fall habe ich mich nicht bewegt, um nicht der Hund zu sein, der dem Hund die Türe aufmacht. Der Kollege pfiff schliesslich, nach minutenlangen und lauten Gejaule, das Tier scharf an. Garantiert war daran auch die Lektüre schuld, die ich in dieser Pause beenden konnte. Nicht nur weil sich deren Probe anbot. Die sich in einem anlegenden Lehren, füllen sich im Laufe mit so mancher Zeile, die man nicht sofort und nicht folglos weglöschen kann.

Samstag, 21. April 2012


Für ein paar Sekunden bleibe ich liegen. Die Arme auf Kopfhöhe. Die linke Hand wird sofort sehr warm oder der Stein ist kalt. Beides. Dann dreh ich mich über die Seite auf den Rücken- Regenrinnen, Dachsturz, Strassenlampen -  und stehe auf. Irritierenderweise schaue ich jetzt in die Richtung aus der ich gekommen bin, die Strasse zurück nämlich, davon wird mir kurz flau. Meine Kleidung ist nirgends beschädigt. Zehn Meter entfernt steht ein Junge in einer silbernen Autotür. Ein Golf- er sieht rüber. Die Hand ist am Ballen etwas aufgeraut. Ich gehe, weniger zügig, weiter. Die Luft riecht wie November und ich hab noch zehn Minuten. Erst an der Garderobe klopfe ich hellen Dreck vom Mantel. Die Bügel klirren noch länger nach. Dann fahr ich den Rechner hoch und bekritzel Post-It-Zettel und meinen Unterarm mit einem Kugelschreiber. Auf der Toilette sehe ich, bestimmt eine Stunde später, während ich meine Haare hochstecke, das ich mir den linken Hüftknochen aufgeschürft habe. Davon mach ich ein Foto, auf dem man nichts erkennt. Ich versende es trotzdem.

Die erste Stunde bin ich völlig hingerissen vom Publikum und achte nicht wirklich auf die Bilder. Wirklichlich, es ist schwer. Gestern Abend habe ich die Zusage auf eine Eintrittskarte bekommen. Weil wir direkt dorthinfahren wollen, ziehe ich mich morgens schon entsprechend an. Im Vergleich sehe ich, das ich es nicht falsch gemacht habe. Zum Glück aber auch nicht richtig. Wir fahren sofort auf die oberste Etage, in den Bereich der New-Yorker Galerien. Heimliches High-Five mit mir selbst aus Coincidence-Gründen. Auf keinen Fall will ich es schaffen, bei den anderen zu bleiben. Das scheint eh unmöglich, daher speicher ich die Nummer einer Kollegin, für den Fall das ich den Treffpunkt nicht finde. Hier sind alle reich und/oder ambitioniert auf jedenfall aber contemporary. Nicht wenige der jungen Frauen im Erdgeschoss waren vorher beim Stylisten scheint es, ausserdem gibt es wirklich rheinländische alte Schwuchteln, die tatsächlich enggebundende Seidenschals um den Hals tragen. Die schönsten Frauen hier, fast alle auf der ersten Etage, tragen die Haare sehr kurz. Roter Lippenstift, pinker. Hübsche schmalknochige Jungens. Laute Junkie-Look-Studenten mit Sekt-Aperol- was für zwei Seuchen. Söhne und Töchter. Transvestiten. Hermes, Vuitton. Burkas vor Neonröhren. Morgensterne mit Klavierlack. Ventilatoren vs. Goldpailletten. Überall Sekt-Aperol. Manager gegen Privatiers gegen Sammler. Die Galerie- Mädchen an den Tischen sind sehr wach. Ihre Gesichter und auch ihre Visitenkarten, weiß mit Prägung. Vieles sieht aus wie Plattencover oder Flyer. Unzählige Pornoscreenshots auf Leinwand, Kristallsammlung vor blonden Video-Schönheiten. Man darf anfassen, wenn man kauft. Auch den Richter. Auch den Andy. Tony Cragg-Hure. Zerstörte Strassen. Riesige, vomitierende Tiere aus Plüsch. Mädchenplastik von schwarzem Kirchfries durchbohrt. Von Geburt an sehr Reiche sind sanft. Ab Neun gibt es Freikölsch am Südausgang. Die müssen sich nicht hart machen, heisst es. Ich wähle die Nummer der Kollegin.

Dienstag, 10. April 2012

Mehretagige Party. In der obersten Wohnung finde ich es newyorkig. Dabei scheinen die meisten hier nicht mal so richtig unter Drogen zu stehen. Ich weiß auch nicht wie ich das überhaupt so finden kann. Ich war noch niemals in New York, ich war noch nie so richtig high. Aber natürlich habe ich 80er-Jahre Filme gesehen und etablierten Drogenkonsum beobachtet. Wenn man jetzt »Filme« und »Drogen« im vorangegangen Satz tauscht, stimmt das noch ein bisschen mehr. Jedenfalls gibt es in der Wohnung Lampen mit Reflektoren, schlichte teure Möbel vor einer gigantischen Schallplattensammlung, zwischen denen sehr verschieden gekleidete Menschen stehen. Die newyorkigsten Personen sind eine sehr große Frau mit Lederjacke, breiten Schultern und Accessoires in Primärfarben, sowie der Typ dem die Wohnung gehört. Er sieht wie ein in die Jahre gekommender Beatnik aus. Gut, echten Beatniks sollte das schon passiert sein. Also das Altern. So ein broken Smile über schwarzer Kleidung, halogenbeleuchtet vor rohverputzten Wänden; im Anschnitt eine Treppe aus Stahl mit Gitterstufen...Man darf vermutlich nie echt in New-York gewesen sein um es im Wirklichen wiederfinden zu  können. Dass es sich so ähnlich mit vielem verhält und so weiter, sehe ich im Hausflur- wo sonst auch. Als ich auf den Stufen sitze, die ein speziellerer und persönlicherer Mythos hinabsteigt. Fast ohne mich zu wundern. Vielleicht weil ich als Methode erkenne, was als Neigung sich getarnt hat. Vielleicht auch weil ich den Typen jetzt von hinten sehe und von oben, um zwei Uhr morgens. 

Zu einem Drittel sandfarbene Terrassensteine, garantiert erst kürzlich hochdruckgereinigt. Dann der abgedeckte Pool zu einem Viertel, mit seinen weißen Beckenrändern. Dunkelgrüne Folie, an der Treppe zurückgeschlagen, so dass die weißgraue Schwimmjalousie sichtbar ist, zu deren aufgewickelter Rolle ich früher oft ängstlich und Wasser tretend rübergeschaut habe. Dann ein Streifen Rasen und zu einem letzten Fünftel die dunkelbraune Fläche des Blumenbeetes. Die einzige Vertikale ist die Frau meines Vaters, mit dem Rücken zum Betrachter vor dem Beet stehend, mit kurzem Rock und Motiv-Strumpfhose. Sie raucht Zigarillo und sie tut es alleine. Dabei trotzt sie kippelnd dem weichen Rasen. Sie ist klein, blond und hat diese typischen Waden vom Tragen hoher Schuhe. Ich bin mir sicher sie fühlt sich isoliert und so weiter, vielleicht sogar geschnitten. Früher hat sie versucht diesem Gefühl ein paar Funken Originalität beizumischen. Mit der Geschichte ihrer Herkunft meistens. Daran aber hängt es hier letztlich kaum mehr. Man könnte sowieso jeden in dieser Kulisse fragen, ob er sich allein fühlt. Und genau deshab lässt man es bleiben. Daher erwähne ich auch die Kinderzeichnungen nicht, die hier am Kühlschrank hängen, man würde es mir sowieso nicht glauben. Ich darf mich trotzdem freuen die Cousine und den Cousin von Demut gebändigt vorzufinden. Die Pubertät ist plötzlich und knebelnd über sie hereingebrochen. Sie tragen ihre Zeichen und die üblichen Korrekturmaßnahmen. So lassen sie uns wenigstens in Frieden in der Sofa-Landschaft ruhen. Die haben den Trick noch immer nicht raus, die Neuen. Wir haben es ihnen aber schon ein paar Mal erklärt. Sogar offen vor allen, am Tisch. Wie man hier überlebt nämlich. Wie erstaunt wir uns fanden, das auch unser Vater es wusste. Das musste er doch. Wie dumm von uns. Kaffee und Kuchen. Kaffee und Kuchen. Kaffee und Kuchen. Dann eine aktuelle Begebenheit, erzählt von der Großmutter. Der Tisch teilt sich in unbekannter Menge in jene, die diesen Geschichten etwas Absurdes abgewinnen können und solche, denen es keine Erwähnung wert ist. Es wäre bestimmt schön in Gesellschaft mit welchen, die irgendeine, mir unbekannte, dritte Haltung einzunehmen wüssten. 

In einem der zahlreichen Supermärkte unseres Heimatdorfes kaufen wir Alkohol. Weil wir jetzt nicht mehr ganz so klein sind, kaufen wir besseren Wodka, weil wir noch ein bisschen albern sind Import-Mineralwasser. Zitronen noch. Ich dachte wir hätten das überwunden, teuren Sprudel mit schönem Etikett, ach- sei's drum. Und dann Wodka-Soda trinken in der Küche der Eltern. Wir reden über die Kinder der Super-Reichen, die Daniel für ein Uni-Projekt fotografiert hat. »Schön ist die Jugend« hieß es. Ausserdem noch über Dinge, die uns früher mal peinlich waren. Aber jetzt nicht mehr. Aber ja doch! Ein Glas noch. Und dann zu Martin, Hobbyraum-Party. Und dahin erstmal durch die Nacht, die sich letzter Zeit merkwürdig im Hintergrund hält. Der Partyraum ist voll und verraucht. Sitzbänke aus Holz, geblümt, gepolstert und noch ein paar ausgebaute Autositze. An die Bar setzen wir uns. Martin sitzt dahinter, wo es so eng ist, dass man seinen Unterkörper nicht sehen kann und er wie eine Handpuppe aussieht. Bunte Lichterkette aus nur 4 Lampen. Alte Küchenschränke. Kurt Cobain Poster! Kurt Cobain's Lächeln über der Oma-Sitzbank: besser schnell vergessen. Martin sieht fröhlich aus. Wir üben zusammen eine Geste, in der man still, sich wundert durch den Raum guckt, auf die Art wenn man sich völlig unbeobachtet fühlt, und dann irgendwann kopfschüttelnd und stumm ein Wow mit den Lippen formt. Das proben wir bis zum Ende bestimmt an die 1000 mal. 
Die Hälfte der Leute hier ist mit meinem Bruder in der Klasse gewesen. Der aber ist gar nicht da, weil er die Ex-Freundin nicht sehen will, welche auch nicht gekommen ist. Die andere Hälfte der Leute kennt mich also nicht. Ein Mädchen aus der Eckbank-Ecke, fragt laut wie ich heiße. Zwischen uns der Tisch mit dem Sprit, ich auf einem Barhocker, den rechten Schuh hinter ein Stuhlbein hakend, schulterzuckend. »Irgendwas mit N, oder?« Schulterzucken. »Naomie?« Kopfschütteln und ein stummes Wow. Wie kommt sie auf diesen Namen? Nee, echtmal. Letzte Woche auf dem langen Weg zur Uni, haben wir uns in Vanessa reingesteigert. Weiß nicht wie wir darauf kamen. Wir kennen alle keine Vanessa. Nicht persönlich, allenfalls über Ecken. Auch keine Laura, keine Jenny. Deshalb haben wir über sie nachgedacht. Die Vanessa und die Laura und die Jenny. Und über die, die sich in sie verlieben. Davon kenne ich auch keinen, aber es gibt die, es können nicht wenige sein. Wegen Laura wälzen sie sich brennend im Bett. Wegen Vanessa stehen sie geknickt an Bushaltestellen. Zu Jenny's bester Freundin sind sie übertrieben nett auf Parties. Das ist so, ziemlich sicher, bundesweit. Nicken von der linken Seite, bestätigendes. Aber was macht eine Naomie? Kann sie Ski fahren? Ist ihr Treue wichtig? Weint sie oft, vielleicht nie? Was wissen wir über Naomie's? 
Viel zu wenig. Wir wissen geradezu nichts über sie.