Dienstag, 19. Juni 2012


»Ja.« antworte ich auf irgendetwas, schiebe die Zeitung zum Kollegen und sie klebt ein wenig auf dem stramm über den Tisch gezogenem Wachstuch. Abwechselnd rot und grau sind die Bierzelt-Garnituren damit beklebt. Curry Murat in Essen-Kettwig. Industriegebiet. Es ist ein Spitzen-Platz hier, das ist mir klar. Ich fühle mich so gut, dass ich tatsächlich nur ein Wasser trinke, während die anderen traditionelle Gerichte und Cola bestellen. Vor uns liegt die aktuelle Bild, und bin froh das ich nicht gegen den grell-weißen Himmel blinzeln muss, weil ich die Sonnenbrille aufhalte. Ich halte die jetzt immer auf. Man kann tausend gute Gründe gegen Leute haben, die ständig ihre Sonnenbrille tragen. Aus meiner Sicht, durch die warmen Gläser es ist mir gleich. Da sie nach unten hell auslaufen, kann ich auch noch prima damit lesen. Ich habe aber absolut keine Ahnung von Fußball. Daher bitte ich die Kollegen um die Übersetzung, des leider nicht mehr vollständigen Sportteils der Bild-Zeitung. Fantastisch. Irgendein Fussball-Manager ist von den Toten auferstanden. Um 17 Uhr schlug er die Augen auf. Bis auf die nass geregneten Tische ist das ganze Lokal besetzt. Es ist total sauber, alles ist mit faltenlosen Fahnen und straff gespannten Wimpel-Girlanden geschmückt. Hauptsächlich deutsche, vorsätzlich noch ein paar mit internationalem Rapport, aus Versehen eine belgische. Der Rasen ist dicht und kurz, die Zäune mit Geranien geschmückt. Mein Kollege wird bei seiner zweiten Bestellung gefragt, ob wir neu im Viertel sind. Der Besitzer ist Türke, Anfang 40 und sportlich. Obwohl ich hier nur 30 min sitze, kann ich ohne Mühe den Rhythmus nachvollziehen, mit dem die Leute hier kommen und gehen. Man ahnt schnell den Umfang an Formeln und Kommentaren die das begleiten. Normaler Umfang, etwas über dem nationalen Imbissstandard. Ich finde das ganze wahrscheinlich witzig, oder possierlich. Das finde ich nicht extrem ätzend von mir. Um die Ecke ist die Druckerei des Springer-Verlages. Eingeschossig natürlich, und grau. Davor steht – sonst ist alles weitläufig, flach und leer – ein kleiner, einzelner Bild-Zeitungsautomat. Auf dem Weg hierhin fuhr das Taxi an Feldern vorbei, mit riesigen Spargel- oder Erdbeermännchen. Die Bildzeitung ist schon was ganz was feines. 

Auf der Toilette öffne ich meine Haare und wische mir an den Augen rum. Dann ich gehe zurück in den Warteraum. Schön hübsch hinter der Dame bleibend, hinter ihr auf dem kurzflorigem Teppich, als sie uns den Kaffee auf einem Wagen in den dunklen Raum schiebt. Ich nehme davon, obwohl er sich mit dem Medikament nicht verträgt und ich davon Herzrasen bekommen werde. Eben im Zug nach Essen, hatte ich die ersten zwei Stationen lang Herzrasen und Metallgeschmack im Mund, weil ich den kompletten Weg zum Zug rennen musste. Das erzähle ich dem Kollegen, der mit mir Beispiel-Druckerzeugnisse durchblättert, um die Zeit zu vertreiben. Ich finde es wahnsinnig gut, dass er nicht auf die Idee kommt das Licht anzuschalten. Ich bin zu früh aufgestanden, nach einer kurzen Nacht mit lächerlich flachem Schlaf. Aus dem Regal suche ich ein Buch über die Geschichte der Enigma, er ein paar Hochglanz-Portfolios eines Modefotografen. Irgendwann im Winter habe ich während einer anderen schlaflosen Nacht schonmal den Wikipedia-Eintrag zur Enigma gelesen. Den Abschnitt mit der Technik bestimmt vier mal, ohne irgendwas zu begreifen. Wir haben ungefähr eine Stunde Wartezeit für die Abnahme der nächsten Bögen, und ich hätte jetzt noch mal die Gelegenheit, dazu eine ganz anschauliche Grafik mit der Walzenmechanik. Aber ich schaue mir lieber auch die UV belackten Bilder an. Von einem Bikini-Girl, vor einem exotischen Großstadt-Panorama; auf einer Veranda, auf einem Plateau, über einer uns unbekannten Stadt. Wir rätseln welche es sein könnte ich tippe auf Südamerika. Draussen ist leichter Regen. Man sieht seine Schraffur nur dank der dunklen Stellen  zwischen den Blättern, in der Wand aus Bäumen, ca. 30 m entfernt. Der Kollege erzählt mir von Acapulco. Er erzählt total gut. Von einem Mietwagen-Desaster. Korrupten Polizisten mit Fire-Guns – er sagt nicht »Bullen« –, traumhaft miesen Hotels. Dem Trip zu den Pyramiden im Süden, mit dem Bungalow-Park im Dschungel. Dem wunderschön schadhaften Mosaikmuster des verwitterten Pools, umgeben von 60 m hohen Bäumen. Darin Horden von kreischenden Affen. »Doch im Pool war auch Wasser.« Ich war noch nicht in Südamerika, nie echt off-continent, – man, klingt das fies – weil Inseln nicht gelten. Auch England nicht. Und muss die ganze Zeit das Wort »Bletchley Park« denken, während ich mich dazu entscheide, von der Postkarte zu erzählen, die wir in Hamburg gefunden haben. Weil es so angenehm dämmerig hier ist, ich gerade doch kein Herzrasen bekomme und ich den Kollegen mag. Die Karte hatte ein unbekannter Handlungsreisender an seinen Direktor geschrieben. Aus Acapulco. Nach Hamburg. Irgendwann Ende der 70er. Das Motiv vorne ist ein Hotel-Komplex, typisch für die Zeit: Hochhaus mit verspiegelten Fenstern. Er beschreibt das feucht-warme Wetter, die Lage des Hotels und sagt: Acapulco sei eine laute und dreckige Stadt. Hier würde man so beschissen wie sonst nirgendwo auf der Welt.

In der Druckerei riecht es nach Steffi-Love. Meine Kollegin weiß nicht wie Steffi-Love-Puppen riechen. Nach Weichmachern riechen sie, billigem Kunststoff, wie eben diese nachgemachten Barbie-Puppen rochen, deren Gesicht am Hals viel zu breit war, die Augen nicht schräg genug standen und viel zu weit auseinander. Meine Kollegin hatte aber keine nachgemachten Barbies. Ich auch nicht das Nachbarsmädchen aus der Parallel-Klasse hatte eine –, aber ich weiß noch wie sie rochen. Nämlich wie dieses Papier hier. Auf einer sauber gepackten Tasche, die unter einem Tageslichttisch steht, liegen in einer glitzernden Reihe: drei in Aluminium geschlagene Brötchen. Die Maschinen rattern gütig, ich stelle mich mit Nachnamen vor. Er passt gut in den nüchternen Raum. Am Druckterminal werden die Farben verglichen. Der Leiter hat feste, trockene Hände, eine randlose Brille, dunkles Polohemd. Er sieht aus wie ein F-Jugend Trainer. Vielleicht finde ich das wegen dem Deutschlandbändchen an seinem Handgelenk. Und weil er so drahtig ist, braungebrannt und lange Unterarme hat. Ich weiß wie es aussähe, wenn er so ein Netz mit unterschiedlich alten Bällen darin halten würde. Weiße Schnurspuren vom Nylon am Unterarm. Und ich denke immer noch an »Bletchley Park«. Vorgestern hat Sandi es mir buchstabiert, eben erst habe ich es selber gelesen. In dem Buch mit den Chiffrier-Maschinen. Während also die Referenz-Bögen ausgelesen werden, laufe ich durch die Halle und öffne eine englische Telefonzelle, die ganz mit Schaumstoff ausgeschlagen ist. Auf einem kleinen Brett liegen ein Stift und ein leerer Notizblock, und ich sacke ein als ich reingehe. Weil auf einmal alles ruhig ist und auch der Boden ganz weich.