Mittwoch, 27. Juni 2012


In der Fassade schmale Streifen von Fenstern. Einer weit unter der üblichen Kopfhöhe liegend, einer weit darüber. Aus der Hocke sehe ich, eine Haarnadel-länge entfernt, durch die Unteren. OJ guckt – natürlich – unangestrengt durch die Oberen. Ich kneife ein Auge zu und bewege die Nadel mit den Lippen über das Glas. Ziemlich schwimmend das Bild, wegen des Wasser dahinter und dem Alkohol in meinem Blut. An der Liefereinfahrt, sehr wenig später, zeigt OJ auf die helle, plane Mauer, die längs der Einfahrt in die Garage läuft. Zusammen mit der Fassade die Ecke bildet, vor der wir kurz stehen bleiben. Die Sonne malt jetzt, mit Schatten, eine wenig verzerrte Kopie des Rollgitters auf den weißen Putz der Einfahrt. Wer würde meinen, dass dahinter ein Hallenbad wäre? Mit halbnackten Badegästen. Knallblauen Fliesen, alles eckig und nass. Denen da drin nur das Badetuch vertraut ist, der eigene Leib vielleicht, mit ein bisschen Gänsehaut. Und wir machen kein Bild von der Ecke, weil wir uns irren, man käme später wieder hier vorbei. Bevor wir die unfassbar vielen Kaninchen auf dem falschen Hinterhof verscheuchen. Bevor wir im richtigen ankommen, und keinen Eintritt zahlen, weil OJ mit irgendwem verwechselt wird. Ich hatte seinen Anruf nicht mitbekommen, die SMS nicht gesehen. Abends 2 mal, morgens noch 2 mal. Hatte sagenhaft tief geschlafen. »Wenn dieses Wochenende nichts los ist,« sagte ich die Nacht zuvor, rücklings auf der Strasse liegend um Sandi Gesellschaft zu leisten »bring ich mich das übernächste um. Ernsthaft.« Wir konnten vor Lachen kaum noch stehen. Es war absolut gar nichts los, viel zu kühl für Ende Juni und über Chancen absolut nichts zu sagen. Sandi ging als erste in die Knie, als wir über die verpassten unter ihnen lachten.

Wir rauchen auf dem Klettergerüst, es ist warm und alle Jungs hier haben denselben Haarschnitt oder tragen Mütze. Ich drücke mich durch die Leute um Bier zu holen, treffe dabei Fabi und Jolle, später Stefan. OJ singt Deephouse-Lyrics mit, Anna kommt 8 Züge später. Ich falle ihr um den Hals, als hätten wir uns seit Jahren nicht gesehen. Von ihr erst erfahren wir von einem Eintritt und der Verwechslung am Eingang. Von Stefan erfahren wir, dies wäre der wichtigste Termin des Jahres – in Düsseldorf. Während die Sonne abläuft, kaufen wir verkohlte Würstchen, malen mit mit Kreide auf dem Boden, mit den Fingern im Staub. Nur Quatsch und verbotene Zeichen. Dabei verwechsele ich OJ ab und an mit Simon, wegen der Größe vor allem, und weil ich den Namen des zuerst Genannten so selten brauche, wo er soweit weg wohnt. Es läuft jetzt Wicked Games in einer Version, in der Chris Isaac noch langsamer singt als im Original. Wir reden über andere Städte in der anderen Stadt. Unterbrechen uns lautlos, wenn wir mit den Lippen stumm den Refrain mitsprechen. Völlig überraschend das OJ da ist, ich freue mich stark. Morgen schon fliegt er samt Großmutter nach Sylt, will ihr auf dem Flug aus Imperium vorlesen. »Okayer Plan.« sag ich, und frage tonlos, wo ich jetzt diese Erlösung finde, von der alle reden. Aber da steh ich schon gar nicht mehr bei den Anderen, sondern tippe dem Barmädchen auf die Schulter. Bevor wir gehen, führen Fabi und ich explizite Gespräche. Extreme-Wicked-Games-Fachgesimpel. Wir zählen alle Körpereingänge durch, dabei fällt mir auf das Fabi’s Arm nicht mehr im Gips liegt. Wir erreichen die S-Bahn, noch bevor es richtig dunkel wird.

OJ widert sich vor der Unterführung am Hauptbahnhof, darum steigen wir eine Station vorher aus. Laufen zunächst zu Fuß Richtung Innenstadt. Auf der Hälfte ungefähr, klaue ich ein Fahrrad, ziemlich leicht, da es nicht abgeschlossen ist. Es passt sogar farblich zur Garderobe. 1 A mit Rücktritt und Gepäckträger, klickernden Speichen. Wir trennen uns kurz, weil ich noch zur Bank muss. Der Fahrtwind ist lauwarm, ich stehe in den Pedalen. Meine Mantelschöße flattern unsichtbar, weil sie schwarz sind und der Park dunkel. Das Rad hat kein Licht, der Park keine Leuchten. Fledermäuse – nur einen Meter  über meinem Kopf. Ich summe Wicked Games und weiß nicht, wen ich im Refrain meinen soll. Es sind überhaupt keine Motten um die Lichter am Foyer der Sparkasse. Nur ein paar müde Spinnen. Ich beobachte den Bildschirm der Anzeige, das Rad draussen am Fenster, mein darüber geworfenes Spiegelbild- ein grünliches und eins in Rosa, leicht versetzt dahinter, wegen der Doppelverglasung. Fahre zurück zu den Anderen, die beim Italiener warten. Wir wählen, ich bestelle, OJ zahlt – meine Karte ist nämlich defekt. Ich bekomme Oktopus, OJ Pasta mit schwarzen Trüffeln, Anna am Ausgang die Zeitung mit meinen Beiträgen, die dort zufällig ausliegt. Ich hab zuvor noch nie Trüffel probiert. Finde sie schmecken nach nichts Besonderem. Der Heimweg – neu: jetzt mit Rad. Gebe den Strassen mit der geringsten Steigung den Vorrang. Es geht nur einmal kurz bergab, da wo Sandi und ich letzte Nacht gelegen haben. Ich muss mich vielleicht doch nicht töten bevor die EM vorbei ist. 

Auf einem Busparkplatz in Kassel. Wir überlegen: das wäre gar keine Kursfahrt, sondern eine Vergewaltigungs-Reise. Wir gingen gar nicht zur Dokumenta. Gleich käme ein Typ, der uns alle nacheinander vergewaltigen würde. In der Reihenfolge der Anmeldungs-Eingänge. Gesponsert von Red Bull. Heute Abend würden wir alle wieder kaputt-gefickt zurück nach Essen fahren. Schön wär's. Wir laufen durch die Stadt ohne Geräusche, ohne Gerüche, ohne reale Passanten. Polizisten auf Segways, neugierige Studenten mit Rucksack, Rentner in Funktionskleidung, Kinder ohne Haltungsschäden und Zahnfehlstellungen auf Rent-a-Bikes. Es regnet die halbe Zeit. Das Beste an der Dokumenta: die Wiesen drumrum. Wir können uns auf diesen kaum noch bewegen, vor Enttäuschung und Gelächter. Essen zu Mittag im Ristorante Pizzeria Boys and Girls. Stefan und Daniel nehmen Carbonara- immer gut. Simon nimmt eine Margherita. Ich Gnocchi, für umgerechnet tausend Euro. Ausserdem noch auf der Speisekarte: Insalata mixta dello Boys and Girls. Ich habe kein Geld dabei und verspreche Simon, zuhause sofort eine Hypothek für die Gnocchi aufzunehmen. Kassel ist eigenschaftslos, bescheuert, teuer - und jetzt rennt eine weinende Frau, mit einem Glas Hasseröder Premium-Pils auf der Hand, einem Phantom-Dieb hinterher. Schon vier Meter weiter geht ihr Geräusch irgendwohin verloren. Kassel könnte überall liegen, sogar in einigen Menschen. Kassel ist eine einzige Fussgängerzone, der siebte Kreis der Hölle, reserviert für Kultur-Touristen. Ein mit Hausfassaden verschaltes Dämm-Wolle-Imperium. In der Innenstadt, neben der Hauptstrasse, hört man ausschliesslich die vom Wind verursachten Geräusche! Wir könnten stürzen, ohne uns die Knie aufzuschlagen. Strassenbahn fahren ohne angeschnorrt zu werden. Planstadt, Normstadt of Nothing. Die testen hier irgendwas. Nach dem Essen versprechen wir uns gegenseitig, nicht mehr zu lachen. Wir brauchen noch Kraft um uns fünf Stunden über die Wiesen zu schleppen. Bevor wir völlig nass den Bus erreichen, schimpft uns eine Künstlerin, mit dem schlechtesten falschen Bart aller Zeiten, englische Liebesbriefe vor. Mit italienischem Akzent und sauberen Fingernägeln. »Was fanden wir am beschissensten?« fragt uns Simon, im Radio läuft Chris Isaac mit Wicked Games. Den Bart, und dass wir stattdessen nicht im Bus vergewaltigt wurden. »Und am besten?« Die Besucherin die ohnmächtig in der Ecke lag, in dem Raum mit der Dia-Projektion von den Gesichtsverstümmelungen. Daniel meint, er freue sich auf den Schmutz daheim.