Mittwoch, 6. Juni 2012



Ich habe sehr schlecht geschlafen. Schon die zweite Nacht. Diesmal gegen drei. Vor dem Weckruf bin ich wieder wach gewesen und gleich aufgeblieben. Ich werde nicht duschen. Obwohl ich mich erinnern kann, geschwitzt zu haben, halte ich mein Unterhemd an. Ich kann keinen Geruch daran ausmachen und nehme mir nur ein frisches Höschen. Darüber das weiße Hemd von Donnerstag, mit den breiten, schwarzen Streifen. Es scheint bis auf leicht knitterige Ärmel einwandfrei zu sein. Ich knöpfe es nicht zu, weil ich noch ins Bad muss. Dazu eine schwarze, enge Hose aus festem Stoff. Heute ist es fünf Monate her. Ich weiß nicht mehr, was ich sie letzte Nacht gefragt habe, aber ich kam mir dabei nicht albern vor. Eigentlich bete ich nicht, und mit Geistern spreche ich wie mit den Kindern fremder Leute. Und auch genauso selten. In der Küche scheint vor mir noch keiner gewesen zu sein. Alles liegt noch da, wie vor ein paar Stunden. Heute ist nicht wie jeder Morgen. Es ist nie so. Es ist immer eine Variante von jeden Morgen. Nach dem Frühstück suche ich alles weitere zusammen und entscheide mich für die schwarzen Halbstiefel, die unfassbar staubig sind. Das sage ich laut zu mir selber. Ich finde nur einen dunkelblauen Stockschirm zum schwarzen Wollmantel und verlasse pünktlich das Haus. Den Mantel muss ich nicht schliessen. Es ist diesig, die Luft  kühl und weich. Der in die Innentasche gehakte Schirm schaut unten raus, wie die Schwungfeder einer struppigen Elster. Ab der Kreuzung folge ich einem Mädchen, das die Augen der entgegen kommenden Männer wie ein Löschblatt auffängt. An der Ampel sehe ich auf die ungeputzten Schuhe, mit dem Staub einer Party von Samstagnacht, hinter einem stillgelegten Bahnhof. Ich finde der Staub sieht ganz gut aus. Die Party war wirklich langweilig. Ab dem Ausgang des Parkhauses trennen sich die Wege von dem Mädchen und mir, ich hab sie nicht von vorne sehen können. Jetzt kommen die besten Meter über den unbefestigten Parkplatz, der schon so voll ist, das ich ihn nicht mittig queren kann. In die kurze, dunkle Strasse mit den schönen Fassaden und der bescheuerten Zusammenstellung von Einrichtungen darin. Dazwischen Abrisslücken, die dabei sind sich zu etablieren. Ich fasse ein Blatt am Blumengeschäft, dann sehe ich auf die messinggerahmten Fenster des Orient-Teppich-Handels. Zwei alte verwirrte Raucher vor der geronto-psychiatrischen Tagesstätte. Auf der Hälfte der Strasse kommt mir die schüchterne Auszubildende entgegen. Ich sage »Hallo!« sie »Guten Morgen«. Kurz vorm Büro, an der Ecke gegenüber, fragt mich ein unheimlicher Typ wo hier der Puff sei. Ich zeige auf ein 5x2 Meter großes Neonschild»Nicht zu danken.« — und wühle in der Tasche nach dem Firmenschlüssel.

Ich esse doch auswärts zu Mittag. Wir sitzen doch beim Arkaden-Jappsen. Vorher haben wir uns ein paarmal im Kreis gedreht. Lux hat sich dabei am Hinterkopf gekratzt und ich Standbein-Spielbein Anordnungen probiert. Ich habe eigentlich keinen Hunger und Lux nimmt etwas, das er eben noch nie wieder essen wollte. Wir sitzen in der sterilen Kantinen-Lounge, an einem dieser hohen Tische auf Barhockern. Das ist alles ausreichend bescheuert. Luxi fühlt sich wie unter Drogen und zerdrückt angenervt seinen Reiskuchen. Ich versuche nicht wirklich, nicht wegen jeder Kleinigkeit zu kichern, als sich ein komplettes Rudel von Kaufmännern um uns setzt. Lux sagt, es sei der absurden Situation angemessen, nur noch schweigend auf den Teller zu sehen. Das behalte er sich als Recht vor. Ich bekomme die lustige Panik, dass der Typ mir gegenüber, nicht echt sein kann, weil sein Gesicht zu breit und zu symmetrisch ist. Dann heisst der auch noch Neumann. Auf dem Rückweg setzen wir uns noch fünf Minuten auf eine Bank und beobachten Typen, die Passanten einen Klecks Handcreme anbieten, oder heiß eingedrehte Locken. Bei dem Typen mit den Handy-Schalen bildet sich tatsächlich eine Schlange aus zwei Kunden. Auf der Rolltreppe frage ich mich, ob ich müde und sie lang genug ist, um darauf einzuschlafen.

Ich werde insgesamt drei Mal gefragt was ich zu Mittag hatte. Zweimal sage ich »Lachs«. Einmal davon, spreche ich das aus, wie jemand den ich kenne. Auf dem Tisch steht Kuchen. Über die von der Konditorei beigelegten Servietten mache ich ein paar ganz gute Witze. Der letzte scheint etwas zu hart. Wieso eigentlich? Es gibt soviel, an dem man sterben kann, worüber soll man denn da noch lachen? Nachmittags schneide ich Karton auf sehr exakten Linien. Ich denke mir eine Filmszene bei der zwei junge Chirugen, Freunde aus dem Studium, während einer OP in Streit geraten. Über geöffneter Bauchhöhle, über etwas ausserhalb des OP-Saals. Sie verstehen sich aber die ganze Zeit nicht richtig, einmal weil sie sehr leise zischen, dann wegen dem Mundschutz. Dann bin ich fertig mit dem schneiden. Mir fällt auf das ich noch keine Musik gehört habe heute.

Während ich mich dusche, weiß ich nicht was und ob ich essen soll. Nach dem abtrocknen und föhnen, schminke ich mich noch. Ist mir nach. Kathrin fragt mich durch die Tür irgendetwas blödes, und ich antworte ihr. Auf dem Weg in mein Zimmer mache ich kein Licht, wegen dem Nachbarn. Ich ziehe mich an, räume ein bisschen auf und schaue oft auf das Telefon. Ich werde mich verspäten, habe aber keine Lust das voranzumelden. Bis auf Unterwäsche und Hemd, trage ich wieder das von vorhin. Auch ein ähnliches Hemd, nur mit sehr schmalen Streifen. Interferenz-artig schmal. Ich ärgere mich stellvertretend für Kathrin, mir so eine dumme Frage gestellt zu haben. Ich packe den Rechner in den Koffer und suche meine Handschuhe und wenn zehnmal Frühling ist. Ich rufe Sandi an und sage: »Du Hure, du hast mein Leben zerstört. Ausserdem gehe ich jetzt los.« und gehe los. Es regnet extrem. An einer Ampel überlege ich worüber die Mediziner in Streit geraten sein könnten. Vielleicht hat sich einer von ihnen in eine unkoschere Sache ziehen lassen. Oder irgendetwas eigentlich lustiges ist aus dem Ruder gelaufen. Sie haben ein krummes Ding laufen und der eine benimmt sich aus Übermut zu riskant. Oder einer hat einen Witz über einen Bäcker und Aids gemacht. Ich höre immer noch keine Musik. Meine Schuhe sind nass und wahrscheinlich wieder sauber.