Samstag, 5. Mai 2012


Ich habe nicht lange gewartet, blättere trotzdem die komplette neue Ausgabe durch. Nur ein Artikel ist ein bisschen unheimlich, dabei bemühen sich alle darum. Dieser Absicht noch entgegenwirkend, wird auf jeder sechsten Seite für einen teuren Chronographen geworben. Zeit an sich ist eben nur manchmal gruselig. Das vorige Heft habe ich verpasst. Das letzte eigene habe ich mir vor einem Jahr gekauft und sofort bei einem Freund vergessen. Vor nicht ganz einem Jahr. Im Juni. »Im Juni warst du das letzte Mal hier« sagt sie. Das Mädchen prüft mich im Spiegel, ich zwinker sie an weil sie mich anzwinkert. »Seitdem hat sich erstaunlich wenig getan.« sagt sie. Weil ich eine Bekannte bin, zahle ich angeblich weniger. Beim Verlassen des Ladens bekomme ich das Rückgeld, welches nicht viel ist, komplett in Münzen ausgezahlt. Plötzlich doch viel. Den Trick kann man sich merken. Ich frage mich, ob denn dieser Freund das Heft gelesen hat. Ich müsste ihn längst mal besuchen, er wohnt doch so weit weg. Ich weiß noch den präparierten Eberkopf in seiner letzten Wohnung, mit der komisch glänzenden Zunge, und wie ich mir abends sein Rad leihen konnte, wenn er von der Arbeit kam. Mit dem kaputten Schloß. 

Fahrrad fahren fühlt sich für mich nur so an, wenn ich auf geliehen Rädern fahre oder geklauten, deren Rahmen viel zu groß sind. Auf ebenen Strecken, mit durchgedrückten Knien in den Pedalen stehend- dann scheint das eigene Gewicht zu reichen, dass man weiterfährt. Es ist aber in Wirklichkeit der Schwung, oder ein Gefälle welches man nicht erkannt hat. Man fürchtet ein bisschen um die nackten Knie. So ist es bei mir immer gewesen: der Mut muss erst wachsen und wird dann vom Leichtsinn gezogen, oder vom Vordermann, der pendelnd immer schneller tritt. Wie da im Sommer, auf den übervollen Strassen, als ich fast ständig ums Leben kam, weil ich nicht verloren gehen wollte. Auch weil ich mein Geld nicht selber trug, sondern es in den Taschen des Vordermanns verwahrte. Während einer kurzen Rast stand ich am Fluss dieser Stadt, der schon ziemlich breit ist. Der Kopf summte schlimm und ich spuckte eine Angst ins Wasser, die mir bis heute manchmal entgegentreibt. Oft seh ich ihre Schlieren nicht mehr unter den Linien der anderen. Schnell habe ich wieder den Lenker gegriffen, den schon schmerzenden Schoß wieder auf den harten, schmalen Sattel geschoben. Rotes Licht auf den Schultern, blauer Schatten im Gesicht. Am Ufer abends, mit dem goldig glänzenden Staub. Ich dachte ich verlier den Verstand. Es war nicht komplett im Wasser gelandet. Es sammelt sich längst im Munde aller. So ständig, dass es kaum noch jemand schmeckt.
  
Auf dem Heimweg zerwühl ich mir ständig die Haare, in der Hoffnung dass sie bis abends etwas fettiger sind. Auf einem stumm gestellten Fernseher beim Gemüse-Türken, schleppt sich ein Mädchen durch Dünen. Ich zahle mit der größtmöglichen Anzahl an Münzen. Ein Typ wälzt sich singend im Wüstensand. Dann rettet er dem Mädchen das Leben oder bricht ihr das Herz, vermutlich beides: es ist ein Musik-Video, in viel zu satten Farben. An der Kasse packt der Kassierer alles in eine durchsichtige Tüte, die dasselbe Blau hat wie mein Hemd. Meine Güte – die Wolken sind fliederfarben und überall riecht es nach Lindenbäumen, die ich nur im Frühjahr erkenne und die mir den Rest des Jahres nichts bedeuten. Keine Eile. Es ist ja noch ein bisschen Zeit bis dahin, wenn der Blütenstaub auf den Strassen in Linien zusammentrocknet, nach den ersten aufgeschobenen Regengüssen. Die Strasse querend geh ich schrittweise dem Horizont entgegen, den man in der Stadt seltener sieht als in der Wüste, wegen der Häuser. Manchmal tut man dabei so, als ob es etwas besonderes wäre.